Boris von Brauchitschs fotografisches Erzähl- und Bildprogramm
: Minimalistische Reiserinnerungen oder Das Schwarz-Weiße Quadrat

Hochästhetisch gestaltete Kompilation: Boris von Brauchitsch, „Venedig o. J.“ Foto: Aus dem besprochenen Band

Die Zahl Neun, gebildet aus der dreifachen, göttlichen Zahl Drei, steht für Vollkommenheit. Doch Mysterium und Kabbala dürften Boris von Brauchitsch nicht vorrangig geleitet haben, als er die Zahl für sein Erzähl- und Bildprogramm, als Metapher für äußerste Verknappung seiner minimalistischen Reiserinnerungen und zum Titel seiner literarisch-fotografischen Publikation gewählt hat.

Die jeweils in Dreierreihe zum Quadrat angeordneten Schwarz-Weiß-Fotos zu den einzelnen Stationen (Städten wie Paris, Hamburg, Barcelona, Marrakesch, Ländern wie Irland) sind durchweg Varianten eines zunächst oft kryptisch anmutenden Motivs. Pars pro toto und zusammen mit den gegenübergestellten, sehr persönlichen Gedankensplittern beschreibt von Brauchitsch scheinbar beiläufige Beobachtungen auf dem Weg. Der geschärfte Blick eines Fotografen verbindet sich mit dem subjektiven Urteil eines weitgereisten und humorbegabten Moralisten, unterfüttert von einer strengen Bildordnung. Bild und Text bilden gemeinsam eine lyrische Struktur und können als elegante, freilich auch elitäre Replik auf die gegenwärtige Bilderflut gelesen werden, auf deren Folgen für den Umgang mit Bildern, mit Wahrnehmung und Erinnerung.

Bild und Text bilden gemeinsam eine lyrische Struktur und können als elegante, freilich auch elitäre Replik auf die gegenwärtige Bilderflut gelesen werden

Stilistisch verweisen Boris von Brauchitschs Arbeiten auf die Subjektive Fotografie von Otto Steinert und auf Fotoform-Protagonisten wie Peter Keetman oder Toni Schneiders. Er pflegt (im besten Wortsinn) virtuos deren abstrakte, vielfach expressiv-grafische Interpretation eines Sujets. Baumskelette in Carrizal etwa, Straßenbahn­oberleitungen in Amsterdam lösen sich vom Gegenstand, sind Abstraktion und Folie für wunderbare Girlanden einer gelungenen Assoziationskette. Aus einer Neunergruppe mit elektrifizierten Sicherheitszäunen auf und an Gebäuden in Südafrika wird, nein, keine Typologie, sondern eine poetische Erzählung über Angst, Abschottung und Verachtung. Angesichts der rätselhaften Brandspuren zwischen den Gräbern auf dem Friedhof von Soweto, imaginiert von Brauchitschs „Gottesdienst und Opferplatz“, wird aber eines enttäuschend Banalen belehrt: Die Friedhofsgärtner verbrennen hier ihr gemähtes Gras. Zeichen und Wahrnehmung gehen in dieser – wie könnte es bei diesem Anspruch anders sein – hochästhetisch gestalteten Kompilation sehr konträre, oft überaus amüsante Wege. Und münden in der derzeit vollkommen vernachlässigten, sehr alten, dabei ziemlich trivialen und überaus aktuellen Erkenntnis, dass weniger mehr ist und Neugier der vergnüglichste und bei Weitem erhellendste (Reise-)Begleiter. Annegret Erhard

Boris von Brauchitsch: „9“. Kehrer Verlag, Heidelberg 2016. 120 Seiten, 54 Farbabb., 35 Euro