Das Europa der Wunden

ITALIEN Amir fürchtet weiter die Abschiebung

ROM taz | Bahnhof Turin. Auf Gleis 10 steht der Zug nach Bologna. Hinter der Fensterscheibe setzt Amir sich die Kopfhörer für sein iPhone auf: Samhini yamma, von Ashref. Vom Bahnsteig winkt ein Junge mit rot geweinten Augen: sein bester Freund. Sie wuchsen zusammen auf, in Sfax in Tunesien, und zusammen fuhren sie mit dem Boot nach Lampedusa. Jetzt kommt der Abschied.

Amir fährt nach Parma zu seinem Onkel, Hasan zu einem Freund nach Paris. Beide wurden gerade entlassen aus dem Abschiebezentrum von Turin nach sechs Monaten Haft. Jetzt machen sie sich wieder auf die Reise – aber mit großer Bitterkeit. Aus ihrem Europa der Träume wurde das Europa der Wunden.

Zum Beispiel die Wunden, die Amir unter dem linken Hemdärmel verbirgt. Sie reichen vom Bizeps bis zum Handgelenk. Es war am Tag der Revolte im Abschiebezentrum. Sechs Polizisten verprügelten ihn. Amir schlug ein Fenster ein und schnitt sich mit einer Scherbe die Adern auf.

In der Tasche hat Amir einen Ausweisungsbescheid. Noch vier Tage hat er, bevor er das Land verlassen muss. Danach ist er erneut ein „Illegaler“. Sollte er kontrolliert werden, kommt er gleich wieder ins Abschiebelager.

GABRIELE DEL GRANDE

Aus dem Italienischen Michael Braun