Immer wieder Liebe

Kurz und gut Der Ex, der Norden, der Chef – alles besser als wild gewordene Kleinbürger. Gefühl und Analyse – wo wären sie und damit wir ohne Bücher?

Sanft in den Zeilen liegen Foto: Steve Mccurry/Magnum Photos/Agentur Focus

In Plastikbecher

Wenn Gertraud Klemm in die Abgründe des Frauseins blickt, kann man sicher sein, dass ein wutschäumender, mitreißender, großartiger Text dabei herauskommt. Schon in ihren beiden ersten Romanen „Herzmilch“ und „Aberland“ befasste sich die österreichische Diplombiologin und Schriftstellerin mit den klebrigen Fängen bürgerlicher Rollenbilder und der ungerechten Arbeitsteilung in puncto Reproduktion. Das neue Buch „Muttergehäuse“ kann man als dritten Teil diesen Zyklus sehen, denn wieder geht es um das zwiespältige Verhältnis einer über 30-jährigen Protagonistin zur Mutterschaft – diesmal allerdings, weil Mutter Natur ihr das Zeugen eigener Kinder versagt.

Die Gesellschaft werdender und seiender Mütter löst in der Folge Würgereiz aus, die Beziehung zum Ehemann wird zur einzigen Belastungsprobe und der Körper der namenlosen Ich-Erzählerin zum eigenen Todfeind. Wie ein einziger Selbstanklagemonolog fließt „Muttergehäuse“ dickflüssig und unaufhaltsam in Richtung Nervenzusammenbruch. Es werden Gynäkologen konsultiert, auf Kaffeehaustoiletten wird in Plastikbecher gewichst, Pilgerreisen werden angetreten und ideologische Bücher verworfen, die Wunsch­eltern eigentlich motivieren wollen. Ein ehrliches Selbsthilfebuch, so Klemms Erzählerin, muss sie sich selbst schreiben. (Ein dezenter Hinweis darauf, dass „Muttergehäuse“ autobiografische Züge trägt.)

Einen Ausweg aus dem biologischen Fatalismus bietet Klemm ihrer Protagonistin schließlich mit der Adoption eines Kleinkinds aus Südafrika. Das schwarze Baby im Arm einer weißen Frau bringt natürlich neue Reflexionen über Rollenbilder mit sich. Doch wenn die Autorin der Patchwork-Kleinfamilie so etwas wie ein Happy End gönnt, fällt endlich ein Lichtstrahl in den mütterlichen Abgrund, und der rabiate Sound des Romans kulminiert in der eigenen Sehnsucht: Kindergelächter. Frank Schäfer, Ambros Waibel, Ralf Sotscheck, Tim Caspar Boehme, Elke Eckert, Fatma Aydemir und Katrin Bettina Müller

Gertraud Klemm: „Muttergehäuse“, Kremayr & Scheriau, 158 Seiten, 19,90 Euro

Ein bescheidener Kritiker

Nach der alten Lichtenberg’schen Sudelbuch-Maxime beeinflusst es das Urteil maßgeblich, ob man ein Buch im Sitzen liest oder im Liegen. Den Begleitumständen der Rezeption, soll das wohl heißen, wächst eine nicht unrelevante Bedeutung beim Verständnis von Texten zu. David Wagner hat diese Idee verinnerlicht. Er schreibt nie nur über ein Buch, sondern meistens auch noch, wie er es bekommen hat, wo er sich gerade aufhält, was ihn umtreibt – und schließlich gleicht er auch noch seine Lebenserfahrungen ab mit dem Gelesenen. In den gelungensten Essays aus dem Sammelband „Sich verlieben hilft“ macht er das genaue Gegenteil eines professionellen Kritikers. Er versucht nicht sein subjektives Geschmacksurteil mit den passenden Argumenten zu objektivieren, sondern er schreibt seine Person in ihrer ganzen ­Unmittelbarkeit hinein in den Text, legt seine Subjektivität mit ihren aktuellen Vorlieben und Gestimmtheiten offen und lässt dem Leser selbst die Möglichkeit zu entscheiden, ob er dem ­Urteil dieses Kritikers trauen will. Vielleicht ist das die ehrlichste Weise, Literaturkritik zu betreiben. Zumindest ist es eine sehr unterhaltsame – und bei aller Selbstbezogenheit auch bescheidene.

Wagner kommt hier ganz ohne Machtworte und superlativische Trompetenstöße aus, und trotzdem weiß man ziemlich gut, welches Buch man jetzt unbedingt lesen möchte. Geoff Dyers „Die Zone“ zum Beispiel. Dessen „Schnapsidee“, Tarkowskis „Stalker“ Szene für Szene nachzuerzählen, um einen Rahmen zu haben für Abschweifungen aller Art, gefällt Wagner auch deshalb so gut, weil er bald merkt, „dass es Dyer vor allem um den Schriftsteller Dyer geht“. Das Gleiche könnte man von diesem schönen Essayband, aber auch von Wagners anderen Büchern sagen. Frank Schäfer, Ambros Waibel, Ralf Sotscheck, Tim Caspar Boehme, Elke Eckert, Fatma Aydemir und Katrin Bettina Müller

David Wagner: „Sich verlieben hilft. Über Bücher und Serien“. Verbrecher Verlag, Berlin 2016, 143 Seiten, 19 Euro

Schweizer Zeitungsroman

Das war mal Timing: Pünktlich zur radikalen „Durchsetzungsinitiative“ legte der Schweizer Journalist Bruno Ziauddin (geboren 1965) den Schlüsselroman „Bad News“ vor, der den Mastermind des helvetischen Rechtspopulismus seziert: Weltwoche-Verleger, -Chefredakteur und -Besitzer Roger Köppel. So weit einerseits. Andererseits haben die Eidgenossen die Apartheidinitiative der Schweizerischen Volkspartei (SVP) Ende Februar mit deutlicher Mehrheit abgelehnt – und die Schweiz ist dann bei allem Respekt doch nur die Schweiz: Wir hier im größten Kanton haben unsere eigenen Bösewichter!

Lesen wir also „Bad News“ einfach als Roman einer nicht zu weit entfernten Gegenwart – der 1990er Jahre – als Zeitungs- und als Roman unserer Migrationsgesellschaften. Das reicht auch. Denn Ziauddin hat ein schnelles, ehrliches und mitfühlendes Buch geschrieben. Die Geschichte wickelt sich in zwei Erzählfäden ab, die am Ende klassisch-katastrophal zusammenlaufen. Da ist der Held „M.“, der zum Einstieg von Chefredakteur „T.“ als der „begabteste Journalist seiner Generation“ umworben und mit dem Angebot gelockt wird, „Führungsverantwortung“ zu übernehmen. Der für einen Überflieger geistig-moralisch recht behäbige „M.“ schließt diesen Teufelspakt – und wird zum Gehilfen bei der Verwandlung des linksliberalen Aushängeschilds der Schweizer Presselandschaft zu deren bösem, rechtem Buben. Und da ist Damir, ein junger Mann aus Bosnien, dessen Mutter im Jugoslawienkrieg vergewaltigt wurde und der auf der Suche nach Identität und Lebenssinn in die Fänge einer islamistischen Gruppierung gerät.

Klar, dass es zum Showdown kommen muss. Bruno Ziauddin erinnert uns an jene Epoche, als alles, was links war, endgültig dem cordhosenträgerischen Sozialkundelehrermileu zugefallen schien und als wer nicht verschimmeln wollte, tatsächlich mal verarbeiten musste, was seit 1968 als rechter Dreck außen vor geblieben war.

Dass aus den verbotenen Spielen 20 Jahre später eine von einem Milliardär ausgehaltene Partei wildgewordener Kleinbürger wie die SVP erwachsen würde, musste man damals noch nicht unbedingt wissen. Heute scheint diese Epoche ihrem Ende zuzugehen: Mal sehen, wann die Schweiz ihren Bernie Sanders oder Jeremy Corbyn bekommt. Frank Schäfer, Ambros Waibel, Ralf Sotscheck, Tim Caspar Boehme, Elke Eckert, Fatma Aydemir und Katrin Bettina Müller

Bruno Ziauddin: „Bad News“. Nagel und Kimche, Zürich 2016, 208 Seiten, 19,90 Euro

Nördlich von Galway

Colin Barrett heißt ein junger irischer Autor, dessen Erzählungssammlung „Junge Wölfe“ sehr zu empfehlen ist. Bei der Eindeutschung war der Irland-Veteran Hans-Christian Oeser am Werk, und deshalb kann man von einer Übertragung ins Deutsche statt von einer Übersetzung sprechen.

Barrett ist 1982 geboren und wuchs in der Grafschaft Mayo auf, die nördlich an Galway angrenzt, wo McCanns Geschichte spielt. „Junge Wölfe“ ist Barretts erste Kurzgeschichten-Sammlung. Die meisten Storys spielen in Barretts Heimatgrafschaft. Er bedient sich, wie Thomas Hardy oder Robert Musil es vor ihm getan haben, eines fiktiven Ortsnamens, doch der Ort ist durchaus real. Bei Barret heißt er Glanbeigh. „Meine Stadt liegt nirgends, wo Sie je gewesen sind, aber Sie kennen die Sorte“, heißt es am Anfang von „Der kleine Clancy“. „Ein Kreisverkehr an einer Nationalstraße, ein Industriegebiet, ein Cineplex mit fünf Sälen, eine Hundertschaft Pubs, die sich auf den zwei, drei Quadratkilometern des Stadtgebiets zusammengedrängt.“

Die Geschichten hängen thematisch zusammen, sie zeichnen ein Bild von jungen Männern und Frauen aus einer irischen Kleinstadt mit all der Hoffnungslosigkeit, die dazu gehört. Barrett achtet genau auf seine Sprache, er formuliert seine Sätze manchmal fast poetisch, so dass sie einen Gegensatz zur Schilderung der Ereignisse bilden.

Manchmal, aber selten, blitzt etwas Humor bei Barrett auf, aber fesselnd sind die Geschichten allemal. Man darf nur nicht erwarten, beim Lesen in eine gute Stimmung versetzt zu werden. Frank Schäfer, Ambros Waibel, Ralf Sotscheck, Tim Caspar Boehme, Elke Eckert, Fatma Aydemir und Katrin Bettina Müller

Colin Barrett: „Junge Wölfe“. Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser. Steidl, Göttingen 2016, 240 Seiten, 20 Euro

Eine Zeugin

2008 fanden Wissenschaftler im Museum für Jüdische Geschichte in Amsterdam ein anonymes Tagebuch, geschrieben von einer Frau über ihre Verhaftung im März 1943 und ihre Deportation. Die Suche nach der Verfasserin war schwierig, da ihr Name im Tagebuch nicht auftauchte. Anhand einiger anderer Namen im Text konnte die Verfasserin als eine einfache Näherin aus Amsterdam identifiziert werden.

Nun ist „Mein geheimes Tagebuch. März – Juli 1943“ der holländischen Jüdin Klaartje de Zwarte-Walvisch auf Deutsch erschienen. De Zwarte-Walvisch beschreibt darin eindringlich den täglichen Kampf ums Überleben, die Quälereien der Leiterinnen und ihre Zukunftsängste in Kamp Vught. „Konzentrationslager Herzogenbusch“, so der deutsche Name des Lagers, war eines von fünf KZs in den Niederlanden. Klaartje war 32 Jahre alt, als sie im Juli 1943 dann in polnischen Sobibor ermordet wurde.

Was an dem Tagebuch irritiert, ist, dass es fast durchgängig in der Vergangenheitsform geschrieben ist und einen nüchternen Schreibstil hat.

Als eines der wenigen direkten Zeitzeugnisse von Holocaust­opfern kommt Klaartjes de Zwarte-Walvischs Tagebuch eine besondere Rolle zu. Frank Schäfer, Ambros Waibel, Ralf Sotscheck, Tim Caspar Boehme, Elke Eckert, Fatma Aydemir und Katrin Bettina Müller

Selbstvergessen in den Seiten aufgehoben sein Foto: Martin Parr/Magnum Photos/Agentur Focus

Klaartje de Zwarte-Walvisch: „Mein geheimes Tagebuch. März – Juli 1943“. C.H. Beck, München 2016, 202 Seiten, 17,95 Euro

Den Chef anlernen

Was bedeutet es für eine Organisation, wenn es einen Führungswechsel gibt? Ein neuer Chef oder eine neue Chefin kommt?

Unter den Angestellten sorgt das zunächst einmal für Unsicherheit, wie sie der neuen Person an der Spitze entgegentreten sollen. Der Soziologe Niklas Luhmann, der von 1954 an für acht Jahre niedersächsischer Ministerialbeamter war, veröffentlichte 1962 den Artikel „Der neue Chef“, den der Suhrkamp Verlag jetzt, um zwei weitere Texte Luhmanns ergänzt, neu herausbringt.

Luhmann analysiert das Phänomen unter organisationssoziologischen Gesichtspunkten, hat dabei neben erwartbaren Beobachtungen – „der erste Eindruck entscheidet“ – vor allem leicht subversive Einsichten anzubieten: Gilt es in einer solchen Situation doch auch, „den neuen Chef von unten anzulernen“.

Luhmann schildert dazu die formale und informale Ordnung von Organisationen – zu Letzterer gehören unter anderem die engeren Gruppen und Cliquen, die sich darin herausbilden können. Und zu denen hat ein neuer Chef, wenn er von außen kommt, erst einmal keinen Zugang, anders als sein Vorgänger.

Luhmanns trocken formulierte Gedanken täuschen keine Ratgeberfunktion vor, sondern beschränken sich auf das Beschreiben von Problemlagen, etwa wenn er die Vor- und Nachteile einer internen Besetzung gegen einen Kandidaten von außen abwägt: Der Wissenschaft, so Luhmann, bleibe bloß eine „Differenzierung der Folgeprobleme“, die in beiden Fällen zu erwarten sind. Und ein ironisches Bedauern, habe doch „die Kunst, Vorgesetzte zu lenken, bisher wenig Beachtung gefunden, obwohl sie für die Stabilität eines sozialen Systems in manchen Fällen die wichtigere sein kann“. Frank Schäfer, Ambros Waibel, Ralf Sotscheck, Tim Caspar Boehme, Elke Eckert, Fatma Aydemir und Katrin Bettina Müller

Niklas Luhmann: „Der neue Chef“. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Jürgen Kaube. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016, 120 Seiten, 10 Euro

Spott und Leidenschaft

Eine Freiheit blieb ihr verwehrt. Die, über den eigenen Tod zu bestimmen. Françoise Giroud erzählt das auf der ersten Seite ihres Manuskripts, das mit dem Satz beginnt, „Ich bin eine freie Frau“. Sie schrieb den Text 1961, nach einem gescheiterten Selbstmordversuch. Der Text gleicht einem Seil, an dem sie sich selbst aus dem Sumpf ihrer Verzweiflung zieht.

In Frankreich ist Françoise Giroud, geboren 1916, bekannt als Journalistin, Mitbegründerin des linksintellektuellen Wochenmagazins L’Express, Autorin von Drehbüchern, Romanen und Biografien berühmter Frauen. Ihr autobiografischer Text „Ich bin eine freie Frau“ erschien erst nach ihrem Tod, aus Rücksicht vor allem auf Jean-Jacques Servan-Schreiber, der mit ihr den L’Express begründet hatte und sie nach einer langjährigen Affäre als Geliebte zurückwies.

Ihr Buch des Überlebens ist also eine Abrechnung mit ihm. Doch ebenso sehr auch eine Rechtfertigung dieser Liebe, die von der gemeinsamen Arbeit zehrte, von Kampf um politische Ziele, von Wettfahrten durch das nächtliche Paris. Giroud schreibt unterhaltsam, sie kämpft mit eigenen Widersprüchen, findet zu Souveränität und verliert sie wieder. Da ist das Buch ein herzergreifendes Dokument.

Doch das Lesen lohnt sich vor allem, weil sie stets einen klugen Blick auf die Regeln der Zugehörigkeit hat. „Man hatte mich auf der gesellschaftlichen Landkarte gewaltsam verschoben“, das macht ihre Perspektive, oft von feiner Ironie, aus. Aus einer ehemals einflussreichen Familie stammend, wollte sie mit 16 Jahren selbst Geld verdienen, um ihre Mutter vor Armut zu schützen. Sie fühlte sich als halber Junge und war als Frau unter den vielen Männern, mit denen sie arbeitete, meist eine Ausnahme – und konnte das genießen.

Schön lesen sich ihre Erinnerungen an die Filmstudios in den 1930er Jahren, in denen sie mit vielen Künstlern die Erfahrung teilte, gesellschaftlicher Außenseiter zu sein.

Nicht zuletzt erzählt das Buch die Vorgeschichte einer Frau, die im Nachkriegsfrankreich als Feministin eine Rolle spielte. Sie diskutiert mit ihren imaginären Leserinnen die Kriterien bei der Wahl eines Liebhabers ebenso leidenschaftlich und manchmal spöttisch wie ungerechte Arbeitsverhältnisse. Frank Schäfer, Ambros Waibel, Ralf Sotscheck, Tim Caspar Boehme, Elke Eckert, Fatma Aydemir und Katrin Bettina Müller

Françoise Giroud: „Ich bin eine freie Frau“. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2016, 237 Seiten, 19,90 Euro