Verfechterin der Schulmedizin: Viele andere PatientInnen setzen auch auf alternative Therapien, zumindest um die Nebenwirkungen der Chemo zu mindern Foto: Sgerbic/Wikimedia commons

„Sterben mit dem Krebs, nicht an ihm“

Therapie Immer mehr PatientInnen setzen bei der Krebsbehandlung auf alternative Methoden, zumindest um die Nebenwirkungen der klassischen Therapien zu vermeiden. Die Produkte können aber auch gefährlich werden und das Krebswachstum sogar befördern

von Anna Gröhn

An einem Nachmittag im März sitzt Gerd Kramer* in seinem Arbeitszimmer in Hamburg-Blankenese und spricht über das Sterben. Seit zehn Jahren leidet der 74-Jährige an Prostatakrebs. In einer ledernen Aktentasche steckt seine lange Krankheitsgeschichte. Zwischen Daten, Zahlen und Fachbegriffen hat er in fein säuberlichen Druckbuchstaben kurze Anmerkungen notiert.

„Ende 2004: routinemäßige Untersuchung beim Urologen“, steht da. Und auch das Ergebnis. Sein PSA-Wert, ein Enzym, das in Krebszellen vermehrt vorkommt, ist erhöht. Das deute auf ein Prostatakarzinom hin. Damit konnte Kramer damals, vor zehn Jahren, nichts anfangen. Einzig die Diagnose verstand er sofort: Prostatakrebs. „Ich habe gedacht, das ist das Ende“, sagt er.

Sein damaliger Urologe habe ihn sofort zu einer Operation in eine Klinik schicken wollen. Doch Kramer wollte zunächst verstehen, was mit ihm geschieht. Kurze Zeit später suchte er einen Onkologen auf. „Er hat mir die Angst genommen und alles relativiert“, sagt Kramer. Auf der Suche nach der passenden Therapie konsultierte er verschiedene ChirurgInnen, UrologInnen – und NaturheilkundlerInnen.

Nach etlichen Gesprächen traf der damals frisch pensionierte Bauingenieur eine Entscheidung: Er wollte keine Operation und weder eine Strahlentherapie noch eine Chemo. „Fast jede Therapie hätte Inkontinenz, Impotenz oder andere gesundheitlichen Probleme zur Folge gehabt“, sagt er. „Die Aussicht wieder gänzlich gesund zu werden, schien relativ gering.“ Jetzt lebt er mit dem Krebs.

Tatsächlich bringen einige Methoden zur Behandlung eines Prostatakarzinoms Langzeitfolgen mit sich. So geht aus den Ergebnissen des Barmer GEK Krankenhausreports aus dem Jahr 2012 hervor, dass knapp 90 Prozent der Patienten ein Jahr nach dem Eingriff über Erektionsprobleme klagten, 28 Prozent wurden inkontinent und 78 Prozent hatten weniger Interesse an Sex.

„Ich wollte nicht sterben, aber auch nicht meine Lebensqualität einbüßen“, sagt Kramer. Gerade bei älteren PatientInnen, die keine hohe Lebenserwartung haben und bei denen der Krebs nicht aggressiv ist, werde daher abgewogen, ob sich eine onkologische Behandlung lohne, sagt Matthias Rostock, der Leiter der komplementärmedizinischen Beratung am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE). „Oft warten wir ab und beobachten, wie sich der Krebs entwickelt.“Diese Strategie nenne sich „Wait and watch“. Der Krankheitsverlauf wird regelmäßig kontrolliert. „Doch einfach nur abzuwarten, fällt vielen PatientInnen schwer“, sagt Rostock.

So ging es auch Kramer. Statt sich seinem Schicksal hinzugeben, wollte der 74-Jährige aktiv werden. Bei einer Selbsthilfegruppe für Prostataerkrankte erfuhr er von der Alternativmedizin – und von dem Nahrungsergänzungsmittel Prostasol. Das sollte angeblich eine krebshemmende Wirkung haben. Doch in Deutschland war das Präparat nicht zugelassen. „Ein Lebensmittel darf keine heilende Wirkung versprechen“, begründet eine Sprecherin des Bundesamtes für Verbraucherschutz.

Kramer bestellte das Produkt deshalb im Internet bei einem niederländischen Händler. Zwei Jahre lang habe er das teure Mittel eingenommen, ohne Rücksprache mit seinen ÄrztInnen zu halten. Tatsächlich sei sein PSA-Wert rapide gesunken. Doch in der Selbsthilfegruppe klagten viele über Nebenwirkungen, wie eine plötzliche Thrombose. Kramer setzte die Medikation ab, sein PSA-Wert stieg schnell wieder an.

„Im Internet werden viele dubiose Therapien und Alternativen beworben, die für die Gesundheit gefährlich sein können“, warnt auch der Mediziner Rostock. Dies gelte für Präparate genauso wie für Foren oder Beratungsstellen. „Das Gefährlichste an alternativen Therapien ist, wenn sie an Stelle einer kurativen Therapie angewandt werden“, sagt der Onkologe. Deswegen sei es wichtig, FachärztInnen aufzusuchen. „Anschließend kann man sehen, was komplementär aus der Naturheilkunde für die PatientInnen getan werden kann“, sagt er.

„Immer mehr PatientInnen fragen ihre behandelnden OnkologInnen nach Alternativen“, bestätigt auch Helena Meyer*, die Praxismanagerin einer onkologischen Praxis in Hamburg. Sie will beim Thema Alternativmedizin lieber nicht ihren Namen nennen. Viele Ärzte hätten nicht die zeitlichen Ressourcen und kaum Erfahrung mit der Alternativmedizin, sagt sie. „Um die Wünsche der PatientInnen wirklich zu kennen, bedarf es einer gewissen Nähe, die oft aus Zeitgründen nicht in der ÄrztInnen-PatientInnen-Beziehung entstehen kann.“

Zudem würden sich viele ÄrztInnen kaum mit komplementärer Medizin befassen und keine offene Haltung dazu haben. „Von einem Paradigmenwechsel sind wir leider weit entfernt“, sagt Meyer. Auch auf Nachfragen der taz wollten sich viele OnkologInnen nicht zum Thema Alternativmedizin äußern.

„Dabei ist es kein Entweder-oder, sondern eine Ergänzung“, sagt Rostock. Auch wenn die Schulmedizin und die Naturheilkunde scheinbar unvereinbar seien, müssten sie sich nicht ausschließen. Viele Alternativen können in klassische Therapien integriert werden. So spielen bei der alternativen Krebsbehandlung vor allem grundsätzliche Maßnahmen, wie eine Ernährungsumstellung, ausreichend Bewegung und seelische Ausgewogenheit eine Rolle.

Dafür griffen ÄrztInnen zunehmend auf fernöstliche Methoden wie Tai Chi, Yoga oder Akupunktur zurück. Dieser Ansatz wird auch „Mind-Body-Medizin“ genannt. „Er geht von einem untrennbaren Zusammenhang zwischen Geist, Seele und Körper aus“, sagt Rostock.

Während einer Chemotherapie würden etwa viele PatientInnen an Übelkeit leiden, wogegen auch modernste Medikamente nicht ankämen. „Mit Akupunktur oder Pflanzenheilkunde kann unterstützt werden, dass es den PatientInnen besser geht“, sagt der Onkologe. KrebspatientInnen litten zudem häufig unter Fatigue, einer starken Erschöpfung. Allein durch regelmäßige Bewegung würden die Symptome weniger.

Auch die Hamburger Onkologin Sigrun Müller-Hagen weiß über die seelischen Effekte der Alternativmedizin: „Das Gefühl, etwas für sich selbst tun zu können, ist wichtig bei einer Krebserkrankung.“ Dennoch gebe es kaum Studien, die diesen Nutzen bewiesen.

Trotzdem könne die alternative Medizin gefährlich werden. Pflanzliche Präparate etwa aus Indien oder Brasilien seien oft mit toxischen Substanzen verschmutzt. In Hamburg sei eine Patientin beinahe an einer Bleivergiftung gestorben, nachdem sie ein Ayurveda-Produkt genommen habe, sagt die Ärztin.

Sogenannte Krebsdiäten könnten zudem zu Mangelerscheinungen führen oder das Krebswachstum noch befördern. Gefährlich könne auch die Kombination aus biologischen und synthetischen Präparaten sein: Johanniskraut, das gegen Depressionen hilft, beschleunige den Abbau von einigen Krebsmedikamenten. Deswegen solle „jedes Mittel, das eingenommen wird, mit den OnkologInnnen abgesprochen werden“, sagt Müller-Hagen.

Kramer blickt in seinem Arbeitszimmer aus dem Fenster. Der anfängliche Schrecken des Krebses ist mit der Zeit verflogen, sagt er. „Krebs ist nicht immer ein leidvolles Siechtum.“ In seinem Alter werde er vermutlich eher an einer Lungenentzündung sterben. In der Selbsthilfegruppe sagen sie immer: „Wir sterben nicht an dem Krebs, sondern mit ihm.“