Neue Strategie des „Islamischen Staates“: Der IS trägt den Krieg in den Westen

Die Dschihadisten stehen in den von ihnen kontrollierten Gebieten unter Druck. Jetzt schlagen sie den Weg von al-Qaida ein.

Videoausschnitt von einer Rede al-Baghdadis

Videoausschnitt von einer Rede des IS-Oberhauptes Abu Bakr al-Baghdadi. Foto: dpa

ISTANBUL taz | Mehr als 500 Tote haben Anschläge des „Islamischen Staats“ in den letzten gut vier Wochen gefordert. Die Stationen: Ankara, Scharm al-Scheich, Beirut, Bagdad – und jetzt Paris. Zwar verrät das Bekennerschreiben des IS zu den Anschlägen von Paris kein Täterwissen. Aber weder steht seine Echtheit infrage, noch bezweifeln französische Ermittler, dass die Extremisten für das Verbrechen verantwortlich sind.

Bereits der doppelte Selbstmordanschlag von Ankara und der Absturz der russischen Passagiermaschine über Ägypten zeigten, dass der IS den Terror über die Grenzen des Irak und Syriens hinaustragen will.

Vereinzelt hatten die Extremisten auch in der Vergangenheit Anschläge im Westen oder auf westliche Ziele verübt. Mit dem Massaker von Paris haben sie jedoch erstmals mitten in Europa einen Terroranschlag verübt, der ein hohes Maß an Planung und Ressourcen voraussetzt.

Es war kein Angriff von Einzeltätern, wie ihn Geheimdienste und Sicherheitskräfte seit Längerem befürchten. Der IS tritt vielmehr in die Fußstapfen des Terrornetzwerkes al-Qaida, mit dem sich Abu Mussab Sarkawi, der Gründer des IS, einst überworfen hatte.

Sindschar von Kurden erobert

Bei dem Streit ging es um die Ziele der Angriffe und die Frage, wann die Zeit gekommen ist, einen „Islamischen Staat“ auszurufen. Zarkawi setzte vor elf Jahren im Irak auf den Kampf gegen die Schiiten, seine Nachfolger dehnten ihr Operationsgebiet auf Syrien aus, und Ende Juni letzten Jahres rief IS-Chef Abu Bakr al-Baghdadi das Kalifat aus und erklärte sich zum Oberhaupt des „Islamischen Staats“. Konsolidierung und Ausdehnung durch den Anschluss von Extremistengruppen in der Region sowie die Rekrutierung von Dschihadisten weltweit lautete nun die Devise.

Nach monatelangem Stillstand sind die Extremisten nun erstmals wieder in den von ihnen beherrschten Gebieten unter Druck geraten. Im Nordirak eroberten kurdische Kämpfer die Stadt Sindschar. Auf der syrischen Seite der Grenze nahm ein Bündnis aus kurdischen und arabischen Rebellen eine weitere Stadt ein.

Gleichzeitig hat die US-Luftwaffe ihre Angriffe auf mutmaßliche IS-Stellungen intensiviert. Die Tötung des IS-Mörders „Jihadi John“ in Rakka und eines IS-Führungsmitglieds in Libyen deutet darauf hin, dass die USA bessere Kenntnisse über die Extremisten haben.

Stärke ist Kapital

Das sind Vorboten dafür, dass der IS seinen Zenit überschritten hat. Statt mit spektakulären Angriffen ihr Herrschaftsgebiet auszuweiten, müssen sie dieses heute verteidigen. Mit Enthauptungsvideos lassen sich keine neuen Rekruten mehr gewinnen, da sie selbst unter den eigenen Anhängern auf Kritik stießen.

Anschläge im Westen könnten dies ändern. Obwohl die Mehrheit der Muslime den IS-Terror ablehnt, haben beispielsweise in der Türkei nicht nur Radikale über die Anschläge von Paris gejubelt. Indem der IS „Ungläubige“ im Herzen Europas angreift, demonstriert er für sie erstmals wieder Stärke – das wichtigste Kapital, um neue Rekruten zu mobilisieren.

Frankreichs Präsident François Hollande hat dem IS den Krieg erklärt. Was dies bedeutet, ist noch nicht klar. Manche Experten werten das Massaker von Paris als eine Art Vorwärtsverteidigung des IS. Angst und Schrecken sollen die Gegner von Angriffen auf das Kalifat abschrecken. Es könnte aber auch umgekehrt sein: Der IS will, wie seinerzeit al-Qaida, den Westen noch tiefer in den Krieg ziehen.

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