Schlagloch: Preußische Promenaden

Der Staat - nach Jahrzehnten liberaler Indoktrination ist die Sehnsucht nach ihm groß.

Ein Wanderer mit Rucksack, aus Caspar David Friedrichs Skizzenbuch entsprungen, wartet sehnsüchtig auf das Schiff mit den schwarz-rot-goldenen Fahnen, und lässt es vorüberziehen; eine Sopranistin singt Tiefinnerliches; ein Bürger mit Borsalino nährt einen feudalen Falken; und ewig bellen die Schäferhunde. Julian Rosefeldts schwarzromantische Videoinstallation im Schlösschen Sacrow passt zu dem Ort, an den wir unseren Westbesuch führen: Friedrich Wilhelm IV. hat ihn angelegt. Verteidiger des Gottesgnadentums, deutschtümelnd und den Künsten zugetan, wies er die kaiserliche "Schweinekrone" mit dem "Ludergeruch der Revolution" zurück, ein schwankendes Werkzeug der Wende, mit der Preußens Bürgertum sich aus Furcht vor den demokratischen Forderungen von Gesellen, Meistern und Studenten in die Arme der feudalen Reaktion flüchtete.

"Wem gehören jene herrlichen Paläste? Wer hat jene unübersehbaren Gärten gepflanzt? Der Souverän", zitiert die junge Frau aus München, mit der wir durch den Nieselregen zurück zum Schlösschen gehen, kokett ihren Diderot, "und wer genießt sie? Ich." Ihr Freund gibt spitz zurück: "Der Souverän? Hatte er nicht wenigstens ein paar Gärtner dabei?" Ach, die Schlösser und die Gärten! Stünde es nur um unser ganzes, nationales Erbe so wie um sie!

Öffentlicher Reichtum - damit war doch einmal mehr gemeint als Parks und Kunsthallen und vergoldete Säle. Die Schwimmhallen, die Lesesäle, die allgemeinen Schulen - ein Jammer. Die Humboldtschen Universitäten, die ihre Studenten einst zu "ganzen Menschen" bilden sollten - zu Fachhochschulen geschleift. Und vom größten Erbteil wollen wir gar nicht erst reden: Bahn, Post, Wasser, Elektrizität, städtische Wohnungen, die Krankenhäuser, die Toiletten auf den öffentlichen Plätzen - alles aus den Steuergroschen unserer Ahnen gebaut. Was von ihnen noch nicht verscherbelt ist, das bringt wohl auch nichts ein.

Unter solch melancholischen Gedanken rumpeln wir mit der S-Bahn zum nächsten preußischen Kleinod, der Museumsinsel, nicht ohne am Kupfergraben 4 a halt zu machen: Hegel hat hier gewohnt. Die bürgerliche Moderne, von den preußischen Reformern mit Vorsicht in Gang gesetzt, mache Knechte zu Freien, dozierte er in der Humboldt-Universität, und entwurzele sie spirituell und materiell. Die kapitalistische Dynamik werde sie am Ende überflüssig machen. Denn bei allem "Übermaß des Reichtums" sei die "bürgerliche Gesellschaft nicht reich genug", diesen Widerspruch zu lösen: Brächte man alle in Arbeit, stürzte die Wirtschaft in die Krise, gäbe man ihnen Almosen, beraubte man sie ihrer Ehre und ließe sie seelisch und körperlich verkommen. "Es ist nicht allein das Verhungern, um was es zu tun ist, sondern der weitere Gesichtspunkt ist, dass kein Pöbel entstehen soll." Hier müsse der Staat einspringen, in der Moderne sei er die "allgemeine Familie", und das "Individuum ist Sohn der bürgerlichen Gesellschaft geworden, die ebenso sehr Ansprüche an ihn, als er Rechte auf sie hat", vornehmlich das Recht auf Bildung und die Pflicht dazu, die Pflicht zur Arbeit und das Recht auf sie.

Der Staat als das "sittlich Allgemeine", der als Interventionsstaat die Mucken des Marktes kompensiert, als Industriestaat die Infrastruktur sichert, als "Nervensystem" den gesellschaftlichen Prozess zusammenhält, als Steuerstaat von seinen Bürgern die notwendigen Mittel dafür fordert, als Sozialstaat die Armenpflege und die Almosen durch das positive Recht auf Bildung, Angstfreiheit, Krankenpflege und Informiertheit ersetzt, und damit Freiheit erst möglich macht - die preußischen Reformer mögen dieses sozialdemokratische Idealbild ihres Hauptstadt-Philosophen als Ziel gesehen haben. In der politischen Wirklichkeit sind sie gescheitert.

"Preußens wirkliche Gloria", titelt der Hamburger Spiegel diese Woche, und ganz wider den Willen der Autoren bricht die Geschichte dieses Scheiterns durch den Wunsch zur Verklärung. Wenig Grund also, den "geschichtlichen Wiederanschluss" an Preußens "Traditionsbestände" zu suchen, wie Eckart Fuhr sich in der Welt über die patriotische Wende freut.

Was aus dieser Geschichte (und ihrem schlimmen Ende 1933) allenfalls zu lernen wäre, ist das Scheitern demokratischer Ideale an der "Faulheit und Feigheit" (Kant) von Mittelschichten, die sich aus Furcht vor Statusverlust und "Chaos" an die Mächte des Status quo klammern und ihre politische Ohnmacht mit "Innerlichkeit und Empfindsamkeit" kompensieren. Modernität auf dem Markt, Romantik am Abend, und ein wenig "gewollte Frömmigkeit" (S. Haffner).

Das Volk, wie immer, wenn es ans Erben geht, denkt da materialistischer: 75 Prozent der Deutschen, so hat es die Zeit ermittelt, vermissen einen Staat, der für Gerechtigkeit sorgt; zwei Drittel wollen staatliche Eisenbahnen, staatliche Post, staatliche Energieversorgung, mehr Geld für Kinder und Bildung. Die Zahl der (West!)-Deutschen, die den Sozialismus für eine gute Idee halten, die nur noch nicht verwirklicht wurde, ist in den achtzehn Jahren seit dem Verröcheln seiner preußisch-stalinistischen Variante von 30 auf 45 Prozent gestiegen. Hegels und Liebknechts Idee des Staates als sittliche Totalität - zwei Jahrzehnte liberaler Indoktrinierung haben sie gestärkt.

Die Aufmachung der Zeit scheint eher vom Schrecken über diese Traditionstreue gepeinigt: Hinter der Parole "Mindestlohn für alle" grimmen Marx und Lenin von einer Backsteinwand; "Keine Rente mit 67" - da reckt die alte KPD die Faust. Die kommentierenden Beiworte sind nicht viel freundlicher: Was das Volk da wolle, entspringe "Sehnsucht und Angst", den "vorvernünftigen" Wünschen" eines "sentimentalen Sozialkonservatismus". Gegen die "Unvermeidlichkeit des staatspolitisch Notwendigen" wachse der Wunsch nach "Überetatismus". Nicht "Aufbruchsgeist" treibe ihn, sondern "Realitätsverweigerung" Aber - dem Gott der Mediendemokratie sei Dank: "das demoskopisch Gemessene ist noch lange keine politisch organisierte Mehrheit". Nur unten brummelt es: Selbst der "schwarze Block" der CDU, so erkunden die Reporter, plädiere für Mindestlohn und Gleichheit, gegen Ausbeutung und "Klassengesellschaft". Es gibt eine verfassungsändernde Mehrheit für mehr Gleichheit und den guten alten Staat, quer durch alle Parteien, aber noch funktionieren die repräsentativen Filter.

Gegen Abend erreichen wir das Brandenburger Tor. Ein unscheinbares Schild kündet vom 18. März 1848. Einen Tag später war die deutsche Revolution beendet. Volker Schröder, Volkswirt im Mieterverein und Bürstenbinder in vierter Generation, hat dreißig Jahre für dieses Schild gekämpft; Edmund Stoiber und andere vermuteten kommunistische Umtriebe. Im Friedrichshain liegen 254 Gesellen und Meister, Dienstboten und ein paar "Gebildete" begraben. Nur selten verirren sich Repräsentanten des ganzen deutschen Volkes dorthin. Sie könnten Oskar Lafontaine begegnen. Auch für uns war es diesmal zu spät.

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