Publizist über Realpolitik in Südamerika: "Buenos Aires hat etwas Frenetisches"

Vor acht Jahren war Argentinien pleite. Néstor und Cristina Kirchner regieren seither das Land. Ein Gespräch mit dem Publizisten Verbitsky über linke Realpolitik.

"Ähnlich wie in New York": Tango-Tänzer in Buenos Aires. Bild: dpa

taz: "Das Volk muss die Kontrolle über die Politik und die Politik die Kontrolle über die Ökonomie zurückgewinnen." Herr Verbitsky, das sagten Sie uns in einem Gespräch vor acht Jahren. Das war kurz nach dem Zusammenbruch der argentinischen Ökonomie. Was lässt sich für heute sagen?

Horacio Verbitsky: Sicherlich ist der Prozess, der stattgefunden hat, nicht perfekt. Aber wir haben eine Revitalisierung des politischen Systems erlebt, und die Bevölkerung hat ein neues Verhältnis zur Politik bekommen. Mit der Wahl Néstor Kirchners zum Präsidenten 2003 hat die Politik teilweise wieder die Kontrolle über die Wirtschaft zurückgewonnen. Kirchner war für die argentinische Politik ein völlig unerwartetes Phänomen. Niemand hatte das Auftauchen eines solchen Charakters an der Spitze des Staates vorhersehen können.

Der Publizist: 1942 geboren, lebt in Buenos Aires. Autor zahlreicher Bücher. Kolumnist der argentinischen Tageszeitung Pagina 12.

Der Menschenrechtler: Er ist Präsident von CELS (Centro de Estudios Legales y Sociales) einer der führenden Menschenrechtsorganisationen in Lateinamerika. Verbitsky und Cels haben wesentlich zur Aufhebung der Amnestiegesetzgebung in Argentinien beigetragen.

Der Berater: Er ist beratendes Mitglied der Organisationen Human Rights Watch und Consorcio Internacional de Periodistas de Investigación. Zudem ist er Jurymitglied der Stiftung Fundación Nuevo Periodismo Iberoamericano unter Vorsitz des Schriftstellers Gabriel García Márquez.

Sie haben die Regierung Néstor Kirchner (2003-2007) unterstützt. Was betrachten Sie als deren größte Leistung?

Ich habe Kirchner gewählt, ich habe ihn damals nicht in seiner Kampagne unterstützt. Aber in den ersten Wochen nach seinem Amtsantritt säuberte er die Spitze des Militärs und setzte 27 Generäle ab. Die Militärs hatten schon wieder begonnen, sich in die Politik einzumischen. General Brinzoni suchte Néstor Kirchner auf, als dieser noch Gouverneur der Provinz Santa Cruz war, um ihm eine gemeinsame Regierung aus Militär und Politik nahezubringen. Davon hat mir Kirchner erst kürzlich in einem Interview berichtet.

Das wusste man bislang nicht?

Nein. Kirchner sagte damals zu Brinzoni, dass die Rolle des Militärs in der Verfassung festgelegt sei. Und damit nicht genug: Er hat Brinzoni und die gesamte militärische Führungsspitze in der ersten Woche seiner Amtszeit abgesetzt. Das hatte Wirkung. Niemals zuvor in der argentinischen Demokratie hatte ein ziviler Präsident tatsächlich die politische Kontrolle über das Militär ausgeübt. Weder Alfonsín noch Menem noch de la Rúa oder Duhalde. Kirchner ging auch sofort daran, die Justiz neu zu ordnen, und machte sie tatsächlich zu einem unabhängigen Organ. So unabhängig, dass sich daraus auch viele Probleme für die Regierung heute ergeben. Aber damit muss man leben.

Und im Bereich der Ökonomie, was hat er erreicht?

Es ging darum, sofort neue Arbeitsplätze zu schaffen, das Mindesteinkommen anzuheben. Ebenso die Renten. Und mit dem IWF hart über die Auslandsschulden zu verhandeln. Er hat die Empfehlungen des IWF zurückgewiesen. In den Verhandlungen mit dem IWF und den Gläubigern erzielte Kirchner einen enormen Schuldenerlass von etwa 70 Prozent. Als er anfing, die Wirtschaft zu entschulden, hatte Argentinien Auslandsschulden in Höhe des eineinhalbfachen Bruttoinlandsprodukts. Heute sind es noch 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.

Konnten die Kirchners auch die Kapitalflucht stoppen?

Mehr oder weniger. Aber in den zwei letzten Jahren setzte sie wieder ein - ein Grund für das schlechte Verhältnis der jetzigen Regierung von Cristina Kirchner zum Präsidenten der Zentralbank. In den Zeiten der Krise konnte man legal bis zu 100.000 US-Dollar im Monat ins Ausland transferieren. Die Zentralbank erhöhte den Betrag auf heute bis zu 2 Millionen US-Dollar pro Monat. Der Spielraum für illegale Transaktionen ist sehr groß. So tauchen zum Beispiel Rentner oder Arbeitslose auf, die plötzlich 2 Millionen US-Dollar ins Ausland überweisen. Gegen ein paar Peso stellen sie sich als Strohmänner zur Verfügung. Der Präsident der Zentralbank hat nichts dagegen unternommen.

Hier zeigen sich also für beide Kirchner-Regierungen die Grenzen der Macht?

Die fundamentale Schwäche der Regierung von Néstor und seit 2007 der von Cristina Kirchner ist das Fehlen einer starken politischen Basis, um den Angriffen der Mächtigen zu trotzen. Kirchner hat es mit den Militärs aufgenommen und eine erfolgreiche Wiederaufnahme der Verfahren gegen Diktaturverbrechen ermöglicht. Er legte sich mit der katholischen Kirche an: Nachdem Kirchners Gesundheitsminister Kondome verteilen ließ, wünschte der Erzbischof, dass man dem Minister einen Mühlstein um den Hals hänge und ihn im Meer versenke. Er stellte sich dem Finanzsystem entgegen. Und Cristina Kirchner ist nun dabei, das Vorsorgesystem wiederherzustellen. Menem hatte in den 1990ern die solidarische und soziale Altersvorsorge privatisiert und individualisiert. Die privaten Unternehmen haben sich daran enorm bereichert, während der Staat auf den Pflichten der Absicherung sitzen blieb, einer der Gründe der Staatsverschuldung und des Staatsbankrott 2001/2002. Doch bis heute ist die Kontrolle des gesamten Bankensektors marginal. Beide Kirchner-Regierungen blieben mit ihren Reformen des Finanzsektors auf halber Strecke liegen.

Dann kam noch der Streit mit dem Agrarsektor hinzu …

Cristina Kirchner hat es auch mit der alteingesessenen Oligarchie der Pampa aufgenommen, als diese sich weigerte, die Steuern für die Ausfuhr von Getreide und vor allem von Soja zu bezahlen. Dieser Konflikt hält bis heute an und hat die Regierung 2008 und 2009 schwer beschäftigt. Die peronistische Partei ist sehr, sehr opportunistisch, und die Kirchners haben es nicht geschafft, eine andere Linke hinter sich zu bekommen, eine Alternative zu formieren.

Wer unterstützt dann eigentlich die von den Kirchners geführten Reformregierungen?

Die Medien sicher nicht. Sie sind in der Regel auf plumpe Art gegen die Kirchners. Die Regierung wird vor allem durch die Ärmsten der argentinischen Gesellschaft gestützt. Ein Drittel der Bevölkerung steht fest zur Regierung, aber das reicht natürlich nicht aus. Doch hier kommt auch eine Stärke der Kirchners zum Tragen: Sie unterdrücken die sozialen Konflikte nicht. Es gibt eine Vielzahl täglicher Proteste, Straßensperrungen, "Piquetes" genannt. Diese erzeugen jedoch beim Mittelstand eine unglaublich schlechte Laune.

Es gibt also eine große Sichtbarkeit sozialer Unzufriedenheit?

Genau. Im Gegensatz dazu verfolgt die Regierung der Stadt Buenos Aires unter dem Bürgermeister und Unternehmer Mauricio Macri eine Politik der Repression. Sie formierte Spezialeinheiten zur Kontrolle des öffentlichen Raums, die nachts in schwarzen Uniformen patrouillierten und Obdachlose einsammelten, um sie aus der Stadt zu schaffen. Die Kirchners sind gegen Kürzungen im Sozialbereich und für staatlich kontrollierte Wirtschaftsförderprogramme. Aber Cristina Kirchner hat es nicht geschafft, ihre Wirtschaftspolitik mit Klarheit und Anschaulichkeit zu kommunizieren, wie das zum Beispiel Evo Morales in Bolivien gelang. Die Opposition, der Evo Morales gegenüberstand, ist vergleichbar mit derjenigen, mit der es Néstor und Cristina Kirchner in Argentinien zu tun haben. Aber Evo hat die Wahl mit 60 Prozent der Stimmen gewonnen. Cristina Kirchner liegt im Augenblick bei 30 Prozent. Da ist irgend etwas schiefgelaufen.

Was ist dran an den Korruptionsvorwürfen gegenüber den Kirchners?

Direkte Korruption: nein. Aber es gab Fälle von Korruption im Umfeld, weniger als zu Zeiten Menems, mehr aber als unter Alfonsíns und etwa gleich viel bei de la Rúa.

Wie hat Argentinien die aktuelle Weltwirtschaftskrise überstanden?

Sehr gut. Strukturell ist die Wirtschaft stark und gesund. Auch wenn die argentinischen Medien diese Tatsache verschleiern.

An zeitgenössischen argentinischen Filmen oder Romanen fällt auf, dass sie neben dem ökonomisch krisenhaften Leben auch immer wieder die Globalisierung und südamerikanische Migration zum Thema haben. Inwiefern hat sich in Ihrer Wahrnehmung eine Stadt wie Buenos Aires in den letzten Jahren verändert?

Natürlich hat sich Buenos Aires sehr verändert. Die Migration aus den angrenzenden Ländern wie Peru oder Bolivien ist sichtbar. Néstor Kirchner hat eine Politik der offenen Türen verfolgt. Er strich das Gesetz der Migration aus Zeiten der Diktatur, das die automatische Rückführung illegaler Einwanderer vorsah. Heute bedarf es dazu eines Prozesses, und illegal Eingewanderte erhalten eine provisorische Aufenthaltsbewilligung.

Hat die Migration hauptsächlich Buenos Aires zum Ziel?

Nein, das ganze Land. Aber sie ist in Buenos Aires deutlich sichtbar. Das Baugewerbe zum Beispiel ist praktisch paraguayanisch. Man läuft an einer Baustelle vorbei und hört Guaraní.

Welche Veränderungen gibt es noch in der Stadt?

Buenos Aires hat etwas Frenetisches, wozu die verschiedenen Einflüsse der Migration beitragen. Ähnlich wie in New York.

Ein "Melting Pot"?

Nein, New York ist kein "Melting Pot". In New York vermischen sich Menschen unterschiedlicher Herkunft selten. In Buenos Aires vermischt man sich. Die argentinische Gesellschaft ist offen, und das ist eines ihrer sympathischsten Charakterzüge. Das heißt nicht, dass es keine Fremdenfeindlichkeit oder keinen Regionalismus gibt, aber solche Tendenzen sind nicht hegemonial. Ein Regierender wie Berlusconi ist für Argentinien undenkbar.

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