Südkoreas hohe Suizidrate: Permanenter Stress in Seoul

Der G-20-Gipfel in Seoul soll Südkoreas globalen Aufstieg zeigen. Doch der Erfolg ist mit einem Leistungsdruck erkauft, der immer mehr Menschen in den Suizid treibt.

Ruhe sieht anders aus: Straßenszene in Seoul. Bild: ap

Wenn ab Donnerstag in Südkoreas Hauptstadt Seoul der G-20-Gipfel stattfindet, wird für den konservativen Staatspräsidenten Lee Myung Bak ein Traum wahr. Das kleine Land ist Gastgeber des ersten G-20-Gipfels in Asien. Damit hat das ehrgeizige Südkorea die benachbarten Großmächte China und Japan abgehängt. Zugleich beherbergt Südkorea damit auch den ersten Gipfel der wichtigsten Industrie- und Schwellenländer außerhalb der G 8, also der westlichen Industrieländer und Japans. Der in seiner Heimat "Bulldozer" genannte Lee sagt, damit sei Korea "von der Peripherie Asiens in das Zentrum der Welt" gerückt.

Südkorea war am Ende des Koreakriegs 1953 ein zerstörtes Dritte-Welt-Land. Der Gipfel ist jetzt perfekte Werbung. Er soll die nach Seoul strömende internationale Elite zu Handel und Investitionen einladen. 10.000 Spitzenpolitiker, Manager und Journalisten kommen. Die Bevölkerung wird seit Wochen auf das Großereignis eingestimmt. 50.000 Polizisten sind im Einsatz. Einige Kommentatoren halten den Gipfel für Südkorea sogar für wichtiger als die Olympischen Spiele 1988. Die markierten den Aufstieg zum Schwellenland, der 1996 mit dem Beitritt zur OECD, dem Club der Industriestaaten, gekrönt wurde.

1997/98 gab es mit der Asienkrise einen Rückschlag. Südkorea musste beim IWF um einen Kredit von 57 Milliarden Dollar betteln. Erstmals stieg die Selbstmordrate stark an. Doch die Krise ist längst überwunden. Jetzt sitzt Südkorea in der G 20 in der ersten Reihe.

Dabei zeigt ein Blick hinter die Fassade schon jetzt dunkle Flecken. Denn in Korea geht nicht nur die wirtschaftliche Entwicklung steil nach oben, sondern auch die Suizidrate. Inzwischen hat das Land die höchste Suizidrate aller 33 OECD-Staaten. Längst wurde Japan überholt. Dort gibt es, anders als in Korea, eine Tradition des rituellen Selbstmords, das im Westen als Harakiri bekannte Seppuku.

In Südkorea kamen 2009 laut Ministerium für Gesundheit und Wohlfahrt auf 100.000 Einwohner 31 Suizide, insgesamt 14.579 Fälle. Das sind 20 Prozent mehr als im Vorjahr oder täglich 41 Selbsttötungen. 1999 waren es noch 15 Selbstmorde pro 100.000 Einwohner1982 sogar nur 6,8. Inzwischen sind Selbsttötungen mit 6,2 Prozent die vierthäufigste Todesursache - die häufigste bei Personen zwischen 20 und 30 Jahren (40,7 Prozent) und zwischen 30 und 40 Jahren (28,7 Prozent).

In Südkorea ist es eine Obsession, sich mit andern zu vergleichen. Zugleich ist das Land in permanentem Stress. Sich über Stress zu beklagen ist jedoch tabu. "Die Geschwindigkeit des Wandels ist bei uns sehr hoch", sagt der Psychiater Kim Byungsu. Er arbeitet in Seouls größter Klinik und ist im Vorstand der Koreanischen Gesellschaft für Suizidprävention. Die kämpft für die Anerkennung von Depression als Krankheit. "Südkorea hat eine sehr auf Wettbewerb ausgerichtete Gesellschaft. Wer bei uns nicht die Nummer eins oder zwei ist, wird für nicht gut befunden. Wir brauchten viel mehr Toleranz gegenüber Schwächen und Niederlagen. Doch die sind bei uns nicht vorgesehen", sagt Kim.

Laut dem Psychiater stieg die Suizidrate nach der Asienkrise weiter an. Die Krise hatte Südkorea zutiefst verunsichert. "Damals wurden wir gezwungen, unser Land und unsere Wirtschaft zu öffnen, sagt Kim. Der Wettbewerb sei verschärft worden. "Wer damit nicht klarkommt und unter Depressionen leidet, wird schnell stigmatisiert." Zur wirtschaftlichen Unsicherheit und der mangelhaften Behandlung von Depressionen komme die Auflösung traditioneller sozialer Beziehungen.

Für die Zunahme von Selbsttötungen älterer Menschen, die mit der Alterung der Gesellschaft zusammenhängt, seien Einsamkeit und gesundheitliche Probleme verantwortlich. Die Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter leidet unter den längsten Arbeitszeiten in der OECD. Und bei jungen Menschen wird vor allem das auf stures Pauken ausgerichtete Bildungssystem für die Suizide verantwortlich gemacht. Laut Bildungsministerium lernen Koreas Schüler, die bei internationalen Vergleichen wie Pisa immer sehr gut abschneiden, im Schnitt 49,43 Wochenstunden. Der OECD-Schnitt ist 33,92. Doch wer in Korea etwas werden will, muss neben dem regulären Schulunterricht allabendlich mehrere Stunden privaten Zusatzunterricht nehmen - oft bis Mitternacht.

Selbsttötungen sind auch in den höchsten Kreisen verbreitet und finden auch deshalb immer wieder Nachahmer. Prominentestes Suizidopfer ist ein früheres Staatsoberhaupt. Expräsident Roh Moo Hyun stürzte sich am 23. Mai 2009 bei Busan von einer Klippe. "Der Rest meines Lebens wäre nur eine Belastung für andere. Ich kann nichts machen, weil ich nicht gesund bin. Ich kann weder lesen noch schreiben. Seid nicht zu traurig. Sind Leben und Tod nicht beide Teil der Natur?", schrieb Roh in seinem Abschiedsbrief 15 Monate nach Ende seiner Amtszeit. Dem früheren Menschenrechtsanwalt war zuvor Korruption vorgeworfen geworden. Sein Tod schockte die Nation.

Rohs Fall ist nur einer von vielen in Politik, Wirtschaft und Showbusiness. Vor ihm hatten sich schon ein enger Mitarbeiter des Premierministers sowie der Exbürgermeister von Busan erhängt, Südkoreas zweitgrößter Stadt. Auch der Exgouverneur der Provinz Jeolla tötete sich. Ein Erbe des Hyundai-Konzerns sprang aus dem Fenster. Und ein halbes Jahr vor Rohs Suizid hatte sich mit Choi Jin Sil Südkoreas populärste Schauspielerin erhängt. Ihr Bruder folgte ihr im März 2010. Im letzten August tötete sich eine Enkelin des Gründers des Samsung-Konzerns. Schon im Januar hatte sich ein Vizepräsident des Elektronikriesen umgebracht. Am 7. Oktober erhängte sich die prominente "Glückspredigerin" Choi Yoon Hee. Auch die 63-Jährige, die in TV-Shows wie "Macht die Welt freudvoll" oder "Freude machen" aufgetreten war und rund 20 Bücher über Hoffnung und Glück geschrieben hatte, litt laut ihrem Abschiedsbrief unter Depressionen.

Besonders Suizidopfer aus dem Showbusiness finden zahlreiche Nachahmer ("Werther-Effekt"). So gab es allein im Monat nach Chois Jin Sils Tod rund 700 mehr Suizidfälle als sonst. Doch wurde Selbsttötung auch ohne prominente Vorbilder zum besorgniserregenden Massenphänomen. Von 2000 bis 2009 töteten sich insgesamt 130.802 Koreaner. Davon waren rund 30 Prozent Frauen.

Für die vielen Nachahmer macht Psychiater Kim die sensationalistische Berichterstattung der Medien mitverantwortlich. Seine Gesellschaft zur Suizidprävention, ein Zusammenschluss von Psychiatern und Sozialarbeitern, stellte Richtlinien für Journalisten auf. "Sie sollten nicht über die Suizidmethoden berichten, sich nur an Fakten orientieren, keine Emotionen schüren und Fälle nicht immer wieder aufgreifen", sagt Kim. Die Empfehlungen seien wirklichkeitsfremd, meint ein Redakteur der Tageszeitung JoongAng Ilbo. "Bei Selbsttötungen von Prominenten wollen die Leser doch alle Details wissen", sagt er. Das Internet - Südkorea ist stolz darauf, das am stärksten vernetzte Land der Welt zu sein - sieht Psychiater Kim als Gefahr und Chance zugleich. Zum einen gebe es besorgniserregende Verabredungen zu Gruppenselbstmorden im Netz. Zum anderen lasse sich das Netz zur Aufklärung nutzen.

Die ganz auf Wirtschaftserfolg getrimmte Regierung räumt das Suizidproblem inzwischen ein. Sie will die Rate auf 20 pro 100.000 senken. Doch dafür müsste sie laut Kim erst mal dafür sorgen, dass die staatliche Krankenversicherung die Kosten für psychiatrische Behandlungen zahlt. Auch die Beratungshotlines seien ausbaufähig, aber keine Patentlösungen: "Wer zum Suizid entschlossen ist, telefoniert nicht mehr", sagt Kim. Vielmehr brauche es einen anderen Umgang mit psychischen Erkrankungen. Doch der kulturelle Wandel sei nicht in Sicht. Seine Mitarbeiter stießen oft auf eine Mauer des Schweigens, wenn sie Angehörige nach den Gründen für einen Suizid befragten. Das Selbstbild des erfolgreichen G-20-Gastgebers kennt keine Depressionen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.