Ist das Weltsozialforum noch zeitgemäß?

30.000 Aktivisten treffen sich derzeit in Tunis, um Alternativen zum Kapitalismus zu diskutieren. Doch der Zuspruch nimmt ab. Brauchen wir das Forum der Globalisierungskritiker noch?

JA

Vor zwei Jahren nahm in Tunesien eine globale Bewegung ihren Anfang. Die vom Arabischen Frühling angeschobene Welle globaler Rebellion setzte sich fort auf dem Syntagma-Platz in Athen, bei den Indignados in Spanien, in London und Paris, Chile und schließlich in New York, wo Occupy geboren wurde.

Diese Kämpfe mögen verschieden sein, aber sie haben etwas Fundamentales gemeinsam: 2011, als wir die Macht herausgefordert haben, haben wir uns alle in den Kämpfen der anderen gesehen. Unsere Wut, die Ungerechtigkeit unserer Lage, sie spiegelte sich in allen Protesten wechselseitig wider. Das geschah vielleicht zum ersten Mal überhaupt auf globalem Level. Denn anders als 1968 gab es jetzt das Internet.

All dies muss derzeit evaluiert werden. Es muss darüber nachgedacht werden, wie es weitergehen soll – und wo könnte man das besser tun als am Ursprungsort des globalen Protestzyklus?

Denn die großen Institutionen, seien sie parlamentarisch oder außerparlamentarisch, bringen die Lösung der Fragen unserer Zeit nicht voran. Sie stoppen nicht den Klimawandel. Und sie stoppen nicht die Krise.

Der Wohlstand wird oben konsolidiert und alle anderen werden hierfür benutzt. Doch diese Globalisierung ist gescheitert.

Das Modell des Kapitalismus ist im freien Fall, man sieht es in Zypern, wo es den Eliten nicht einmal gelingt, nur ein kleines Stückchen des Systems zu retten.

Deshalb brauchen wir Institutionen wie das Weltsozialforum. Man kann nicht sagen, wie „erfolgreich“ es ist oder werden kann, aber man kann sagen, dass es einer der wichtigsten Versuche ist, die Welt, so wie sie ist, nicht hinzunehmen.

Jetzt ist ein Schlüsselmoment für unsere Kämpfe. Wir müssen den nächsten Schritt des globalen Aufbegehrens gegen die ökonomische Elite gehen. Das Weltsozialforum in Tunesien könnte diesmal für viel mehr stehen als in der Vergangenheit – wenn wir es nur wollen: als ein großer Moment der globalen Rebellion. MICHAEL LEVITIN

Michael Levitin, stammt aus San Francisco und beschäftigte sich lange mit dem „Wasserkrieg“ in Bolivien. 2011 war er einer der Gründer und Herausgeber des „Occupied Wall Street Journal“ in New York City. Heute schreibt er für das aktivistische Medienportal occupy.com .

NEIN

Was passiert eigentlich, wenn eine Bewegungsinstitution die Bewegung überlebt, aus der sie hervorgegangen ist? Das ist das zentrale Dilemma des aktuellen Weltsozialforums (WSF) in Tunis: Die institutionalisierte Macht hat die bewegliche Macht hinter sich gelassen. Die globale Bewegung gegen den Neoliberalismus und für eine andere Welt, aus der die Foren entstanden sind, hat bedauerlicherweise inzwischen das Zeitliche gesegnet.

Natürlich gibt es weiterhin in vielen Ländern der Welt Widerstand gegen den zwar nicht mehr hegemonialen, aber irgendwie doch allgegenwärtigen und scheinbar unkaputtbaren Neoliberalismus.

Aber diese Bewegungen bleiben zurzeit relativ vereinzelt. Sie fügen sich heute nicht mehr zu einer „Bewegung der Bewegungen“ zusammen, so wie noch vor gut zehn Jahren bei den großen Gipfelprotesten von Seattle, Genua oder Cancún – und eben lange auf den Weltsozialforen.

Deshalb zu sagen, die Foren sollten komplett eingestampft werden, ginge vermutlich zu weit. Sie erfüllen weiterhin wichtige Funktionen, von der regionalen Vernetzung – in diesem Fall für linke Kräfte im Kontext des Arabischen Frühlings – hin zur globalen Vernetzung lokaler Bewegungen. Das WSF ist vermutlich nicht mehr der zeitgemäßeste Weg, das zu tun, aber im Moment gibt es – noch – nichts Besseres.

Wer ehrlich ist, muss aber konstatieren, dass so richtig viel „Welt“ im „Weltsozialforum“ nicht mehr drinsteckt. Zu den Foren kommen zwei Sorten von Aktivisten: solche, die in der jeweiligen Gastgeberregion aktiv sind, wie 2009 in Belém und 2011 in Dakar zu sehen war. Und es kommt das globale aktivistische Jetset, dessen Verbindungen zu den regionalen Kontexten jedoch immer schwächer werden. Das WSF hat keine globale Massenbasis mehr. Außerdem kann es diese, zumindest zurzeit, nicht haben. Deshalb erscheinen diese Events heute manchen wie Fische ohne Wasser – oder „ten years ago“. TADZIO MÜLLER

Tadzio Müller arbeitet bei der Rosa Luxemburg Stiftung. In der globalisierungskritischen Bewegung ist er groß geworden. Zunächst beteiligte er sich am Versuch, eine globale Bewegung für Klimagerechtigkeit aufzubauen. Nun hofft er in Tunis auf neue Inspirationen.