Ich bin eine Reise

Vor einer Wirtschaft, die immer unberechenbarer wird, ziehen sich die Menschen in die Natur zurück – oder lesen „Wanderbücher“

Deutschland ist eine Reise. Eine Harzreise. Eine Winterreise. Eine Reise zu Fuß. In den vergangenen Jahren sind auffällig viele Bücher erschienen, die von langen Wanderungen durch Europas Mitte erzählen. Andreas Altmann ging von Paris nach Berlin, Tobias Zick von Hamburg nach Eschborn, Wolfgang Büscher einmal rund um Deutschland, Landolf Scherzer 400 km entlang der ehemaligen Zonengrenze, Manuel Andrack durchs Mittelgebirge. Weitere Titel wie „Allein und zu Fuß durch Deutschland“ sind in Vorbereitung.

Die Idee ist weder neu noch unzeitgemäß. Wer wandert, befreit sich vom medialen Kordon, den Handy und Internet um Verstand und Sinne legen. Er ist nah dran am echten Leben und an den Menschen, oder, um es mit dem braven Johann Gottfried Seume zu sagen: „Sowie man im Wagen sitzt, hat man sich sogleich einige Grade von der ursprünglichen Humanität entfernt. Fahren zeigt Ohnmacht, Gehen Kraft.“ Kraft, die offenbar auch auf das literarische Feld einwirkt.

Anfang der Achtzigerjahre war Michael Holzach so durchs Land gewandert, und was er in „Deutschland umsonst“ erzählte, traf den Nerv der Zeit. Jeder kehrte damals von irgendeinem Trip zurück, sei es vom Hindukusch oder aus künstlichen Paradiesen. „In Patagonien“ von Chatwin und Herzogs „Vom Gehen im Eis“ waren wenige Jahre zuvor erschienen, und die sozialliberale Ära ging unweigerlich zu Ende. Holzachs einfühlsame Deutschlandreise von unten wirkte da wie eine Katharsis.

Von den zeitgenössischen Wanderliteraten hat eigentlich nur Wolfgang Büscher ähnliche Erfolge erzielt. Vielleicht hat Büscher den neuen Boom der Wandererzählung überhaupt erst begründet, durch seine Erzählung „Berlin–Moskau“ vor drei Jahren. An seinen Büchern, ganz unverhohlen in der Rundreise um Deutschland, fällt der romantische Ton auf, die poetische Subjektivität und wehmütige Vaterlandssehnsucht, das Leiden an Geschichte und Gegenwart. War „Berlin–Moskau“ großartig, weil es dem Leser einen neuen Kontinent entdeckte, so erinnert die Kreisbewegung von „Deutschland, eine Reise“ irgendwie an den Hang jeder Nation, um sich selbst zu kreisen.

Auch von Altmann, Scherzer und Zick erfährt man einiges über Deutschland. Sie schreiben freilich konventioneller, prosaischer, mit weniger literarischem Anspruch und halten sich mehr an das Vorbild Holzach. Sie sind Geschichtensammler. Wenn Zick jedoch seine Altersgenossen – die Endzwanziger – interviewt und dabei vor allem ihre Sehnsucht nach einer bürgerlichen Existenz dokumentiert, wenn Altmann die Geschichten der Gescheiterten erzählt, dann ist das nicht nur ziemlich unromantisch. Dann ist das womöglich allzu realistisch, als dass der typische Mittelschicht-Leser es noch lustig finden könnte.

Da greift er doch lieber selbst zum Wanderstock. In Umfragen geben 60 Prozent der Deutschen an, gern zu wandern, gegenüber 45 Prozent vor zehn Jahren. Der Soziologe und Wanderforscher Rainer Brämer diagnostiziert eine „sozialpsychologische Regression“: Vor einer Weltwirtschaft, die immer unberechenbarer wird, ziehen sich die Menschen in die Natur zurück, um sich neu zu definieren. Nach dem Motto: Die Franzosen gehen auf die Straße, wir in den Wald.

Ein Büchlein wie Andracks „Du musst wandern“, das betont auf niedlich macht und zum Mittun ermuntert, ist auf solche Rückzugsbedürfnisse optimal zugeschnitten. Aber auch die „heroischen“ Wanderbücher, die von den richtig langen Märschen erzählen, sind geeignet, ein verunsichertes Publikum anzusprechen, weil so eine Reise zu Fuß ja immer auch ein Selbstfindungstrip ist, den hier einer stellvertretend für die anderen unternimmt. Am deutlichsten wird das bei Wolfgang Büscher, der die Grenzen des Landes abschreitet, das er liebt, und damit zugleich – abgrenzen heißt definieren – eine Neudefinition seiner selbst vornimmt. Du bist Deutschland, und ich bin eine Reise.

CHRISTIAN JOSTMANN

Wolfgang Büscher: „Deutschland, eine Reise“. Rowohlt Berlin, 2005, 17,90 Euro;ders.: „Berlin–Moskau. Eine Reise zu Fuß“. Rowohlt, 2003, im Taschenbuch 8,90 Euro;Tobias Zick: „Heimatkunde. Zu Fuß und allein durch die Provinz“. Herder, 2005, 14,90 Euro;Manuel Andrack: „Du musst wandern! Ohne Stock und Hut im deutschen Mittelgebirge“. Kiepenheuer & Witsch, 2005, 8,95 EuroLandolf Scherzer: „Der Grenz-Gänger“. Aufbau Verlag, 2005, 19,90 Euro;Andreas Altmann: „34 Tage – 33 Nächte. Von Paris nach Berlin zu Fuß und ohne Geld“. Frederking & Thaler, 2004, 11 Euro