Die Rationalität der Rebellen

UKRAINE Wir erleben eine Revolution, und die Brutalität des Regimes ist schrecklich. Zu einem Bürgerkrieg wird es trotzdem nicht kommen

Ob Janukowitsch Zusagen einhalten will, war stets strittig; ob er sie überhaupt einhalten könnte, hängt davon ab, ob er seinen eigenen Apparat noch beherrscht. Das weiß im Moment niemand. Das macht auch seinen neuesten Vorschlag vorgezogener Neuwahlen, einer neuen Regierung und einer Rückkehr zur Verfassung von 2004 eher listig als realistisch. Die Rebellen hätten sicher verloren, wenn sie nach Zusicherung einiger Reformen friedlich nach Hause gegangen wären. Das haben sie früher nicht gemacht; warum sollten sie es jetzt tun?

Was gegenwärtig in der Ukraine geschieht ist – man entschuldige das Pathos – eine Revolution. Und es ist keine friedliche. Was als Großdemonstration begann, ist erstens zur Rebellion gegen ein durchgängig räuberisches Herrschaftsgeflecht mit fließenden Übergängen zum organisierten Verbrechen geworden. Zweitens ist es aus Sicht der Aufständischen ein Kampf zur nationalen Befreiung von Russland, jener fremdartigen und bösen Macht im Osten. Die Mehrheit der Rebellen wird zwischen diesen beiden Zielen keinen Unterschied sehen. Überdies wirkt, wie jede Revolution, auch diese auf ihre Teilnehmer euphorisierend. Für die Jüngeren ist es die große Zeit ihres Lebens.

Die Gewalt des Regimes ist schrecklich, aber sie löst keine lähmende Angst mehr aus, sondern steigert die Wut. Sollten die Machthaber sich noch einmal militärisch durchsetzen, stünden sie ab jetzt einer Bevölkerungsmehrheit gegenüber, die sie hasst. Das lässt sich auf Dauer nicht durchhalten.

Aber trotz der inneren Unterschiede im Lande ist mit einem Bürgerkrieg kaum zu rechnen. In der Westukraine ist die Staatsmacht offenbar schon zusammengebrochen. Die Gewaltorgane haben sich entweder aufgelöst oder sind zu den Aufständischen übergelaufen. Irgendwann werden sie das auch in Kiew und der mittleren Ukraine tun. Von der Bevölkerung in der östlichen und südlichen Ukraine geht keine Gefahr aus. Sie sieht zwischen sich und den Russen zwar überwiegend keinen Unterschied; aber deshalb wird sie sich nicht mobilisieren lassen. Eindeutig für einen Anschluss an Russland und offenbar kampfbereit ist nur die Bevölkerungmehrheit der Krim. Chruschtschow hatte die Halbinsel 1954 der Ukraine geschenkt.

Die Bevölkerung im ukrainischen Osten und Süden lebt eben noch nach alten sowjetischen Gewohnheiten. Man wählt, was die Mächtigen befehlen, und versucht, den Alltag irgendwie zu überleben. Daran, dass die Herrschenden Verbrecher sind, ist man von alters her gewöhnt. Die neuesten Bemühungen, den Menschen die russische Sprache zugunsten der ukrainischen abzugewöhnen, waren nicht sehr erfolgreich; sie stießen aber auch auf keinen aktiven Widerstand.

Die Westukraine entspricht im Wesentlichen dem österreichisch-ungarischen Galizien vor 1918 beziehungsweise dem südöstlichen Teil des damals wiedererstandenen Polen. Vor dem Hitler-Stalin-Pakt von 1939 hatte die Region nie zu Russland gehört. Aber es gab hier eine starke ukrainische Nationalbewegung, die sich vor allem gegen die polnische und die jüdische Bevölkerung richtete. Gegen sie hatten sich auch die großen Kosakenaufstände des 17. Jahrhunderts gerichtet, die heute zum festen Bestand des ukrainischen Nationalmythos gehören. Nachdem die Deutschen die jüdische Bevölkerung ermordet und die Sowjetunion die polnische Bevölkerung nach Westen umgesiedelt hatte, waren diese Frontstellungen obsolet. Auch in der mittleren Ukraine, wo die Nationalbewegung von der nationalen Intensität im Westen zehrte, dürfte das ukrainische Nationalbewusstsein jetzt unüberwindlich sein.

Siegreiche Revolutionen münden meist in Enttäuschungen, sobald wieder der Alltag dominiert. Die Ukraine wird nicht so rasch den Reichtum und die Rechtsstaatlichkeit Dänemarks erreichen, sondern eher mit den Problemen zu tun haben, die jenen Bulgariens oder Rumäniens entsprechen. Darüber jetzt zu spekulieren macht aber keinen Sinn. ERHARD STÖLTING