KURZKRITIK: CLARA ZINK ÜBER „ÖDIPUS“
: Pflicht zur Reflexion

Voller Ernst verkündet König Ödipus seinem Publikum: „Ich weiß, wer ich bin. Ihr nennt mich weise, und ihr habt Recht damit.“

Justus Ritter spielt Ödipus als arroganten Herrscher. Ihm gelingt ein Eindruck von Selbstüberschätztung, für die man den König nur belächeln will. Als Ödipus jedoch erkennt, dass er völlig ahnungslos ist, muss sich das Publikum unweigerlich fragen, über wen es da eigentlich gerade gelacht hat. Im Laufe des Stücks wird es immer wieder mit denselben Fragen konfrontiert: „Wer bist du? Was ist dein Name? Dein Beruf? Dein größter Wunsch?“ Im Laufe des Stückes kommt mehr und mehr die Relativität dieser Eckpfeiler bürgerlicher Identität zum Vorschein: Sie bieten keinen Halt.

Tragisches Opfer dieser Unsicherheit ist vor allem Iokaste, Ödipus’ Frau und Mutter, gespielt von Lisa Guth. Sie lässt Iokaste erfolgreich am Wunsch nach Liebe verzweifeln, die sie weder von ihrem ersten Mann Laios noch von Ödipus bekommen kann.

Im Bühnenhintergrund lässt Michael Köpke die Worte: „Glück gehabt“ über einem riesigen Familienportrait erstrahlen und unterstreicht das durchgehende Motiv der Sinn und Identitätssuche.

Diese wesentlichen Fragen – nach Glück – werden dem Publikum bereits in der ersten Hälfte des Stücks gestellt, bei dem Frank Abt Regie führte. Im Folgenden liegt der alleinige Fokus lange Zeit auf Matthias Neukirch als altem Ödipus. Sein Monolog über den Tod als „letztes Loslassen“ ist ermüdend. Immerhin: Durch das Scheitern von Ödipus’ Erkenntnisprozess werden die ZuschauerInnen in die Pflicht genommen zu reflektieren.

Nächste Aufführung: heute, 20 Uhr, im Kleinen Haus