Und plötzlich konnte man rüber

TAZ-SERIE MAUERFALL (TEIL 3) Da, wo am 9. November vor 25 Jahren die Mauer fiel, hat Uwe Srednicki sein ganzes Leben verbracht. Die Nacht, in der die ganze Welt auf den Grenzübergang schaute, weil Tausende Ostdeutsche in den Westen strömten, verschlief er

Sein kleiner Polsterladen mit der Holzbank davor gilt heute als inoffizieller Nachbarschaftstreff

VON SANDRA LÖHR

„Man hat die Mauer einfach ignoriert. Wenn man die ganze Zeit daran gedacht hätte, wäre man wahrscheinlich kaputtgegangen.“ Ein kalter Herbsttag am ehemaligen Grenzübergang Bornholmer Straße: Uwe Srednicki steht etwas verloren zwischen den Touristen, die sich gegenseitig vor den Resten der Mauer und der Bösebrücke am Platz des 9. November 1989 fotografieren. Srednicki sagt diesen Satz so, als sei er selber noch immer etwas erstaunt über die eigenen Verdrängungskünste während der Jahre mit der Mauer. Ein kleiner, etwas untersetzter Mann, Mitte fünfzig, von Beruf Polsterer. Er trägt eine schwarze Brille und trotz der Kälte offene Windjacke. Seinen roten Händen sieht man die Arbeit in der Werkstatt an.

Neben Uwe Srednicki fahren Autos und Radfahrer eilig über die Bösebrücke, die heute die Stadtteile Gesundbrunnen und Prenzlauer Berg verbindet. Unter der Brücke befinden sich Gleise. Die S-Bahn rauscht darüber und spuckt im Fünfminutentakt Pendler aus der Station Bornholmer Straße aus, die sich schnell nach rechts und links auf die beiden Stadtteile verteilen.

Bornholmer Straße: Das war einst Grenze zwischen Ost und West, Kapitalismus und Kommunismus. Bis die Mauer fiel. Davor war die Welt hier zu Ende. Zumindest für Ostberliner. Nur Westberliner durften den Grenzübergang für Besuche benutzen.

Uwe Srednicki zeigt auf die Straße, kneift die Augen zusammen und erinnert sich. „Hier auf der Straße war ja damals nüscht. Kein Verkehr, keine Bäume, keine Tram-Schienen, nur der Grenzübergang und ein Intershop. Aber diese Leere fand man damals ganz normal.“

Hinter dem Areal der ehemaligen Grenzanlage, auf der heute ein riesiger Discounter steht, fangen die Straßen des Viertels an, in denen Uwe Srednicki sein ganzes Leben verbracht hat und die er Heimat nennt. Nordisches Viertel, so genannt wegen der Straßennamen: Bornholmer, Malmöer, Finnländische, Isländische, aber auch Driesener und Czarnikauer Straße. In der Driesener Straße ist er aufgewachsen, in der Czarnikauer Straße wohnt er seit 1993, beide nur ein paar Meter vom Grenzübergang entfernt.

Den Mauerfall selber verschlief Uwe Srednicki. Damals wohnte er mit seiner Frau in der ersten eigenen Wohnung in der Dänenstraße. Am Tag zuvor, also am 8. November 1989, war er 30 Jahre alt geworden und hatte mit Familie und Freunden gefeiert. Drei Wochen davor war sein Sohn auf die Welt gekommen, das Leben stand kopf.

Die Srednickis bekamen nicht mit, wie Günter Schabowski die Pressemitteilung des Politbüros verlas, in der die Rede von der neuen Reisefreiheit war, und sie bekamen ebenfalls nicht mit, wie sich im Laufe des Abends immer mehr Menschen vor dem Grenzübergang Bornholmer Straße versammelten und ihre eben verkündete Freiheit lautstark einforderten. Der Fernseher lief zwar, und irgendwann sagte seine Frau schläfrig zu ihm: „Wollen die etwa die Grenze aufmachen?“ Uwe Srednicki entgegnete nur: „Ach, veräppeln kann ich mich alleine.“

Sie gingen früh zu Bett und verschliefen, wie der zuständige Leiter des Grenzübergangs schließlich dem Druck der Demonstranten nachgab, gegen 23.30 Uhr entnervt den Schlagbaum hochriss und im Laufe der Nacht Tausende Ostdeutsche über die Bösebrücke in den Westen strömten und sich weinend und lachend mit den Westberlinern in die Arme fielen.

Am nächsten Tag, als Uwe Srednicki zur Arbeit gehen wollte, wunderte er sich über die vielen geparkten Autos in seinem Viertel. In Dreierreihen parkten sie vor den Bürgersteigen. Dazwischen Kamera- und Übertragungswagen des Fernsehens. Im Laufe der Nacht waren rund 20.000 Menschen über die Bornholmer Straße in den Westen gegangen.

Uwe Srednicki konnte es noch immer nicht glauben.

Zunächst fuhr er ganz normal zur Arbeit. Möbelkombinat Parat in der Brunnenstraße. Als er ankam, sagte sein Chef: „Was, du willst arbeiten? Heute arbeitet keiner. Los, fahr in den Westen. Hol dir dein Begrüßungsgeld.“

Also fuhr er wieder zurück zu seiner Frau. Zusammen mit dem Säugling und seinem Vater gingen sie zum Grenzübergang Bornholmer Straße und ließen sich ein West-Visum in den Pass stempeln.

„Als ich schließlich tatsächlich über die Bösebrücke ging, bekam ich weiche Knie.“ Erst da begriff er, was geschehen war: dass sich vor seiner Haustür die Grenze geöffnet hatte. „Da hat man jahrzehntelang diese Mauer vor der Nase und dann kann man plötzlich einfach so rüber“, sagt er kopfschüttelnd und zeigt auf seinen blauen Pass mit dem Datum des Visums: „10. 11. 1989, Bornholmer Straße.“

Mittlerweile steht Uwe Srednicki unterhalb der Bösebrücke. Hier, neben den S-Bahn-Gleisen auf dem ehemaligen Kolonnenweg, wo die Grenzbeamten mit ihren Hunden patrouillierten, verläuft heute der Mauerweg. Gesäumt von japanischen Zierkirschenbäumen und kleinen Schrebergärten, wirkt die ländliche Idylle unterm Verkehrsknotenpunkt wie aus der Zeit gefallen. So, als würde es der Stadt hier noch immer nicht gelingen, zusammenzuwachsen.

Langsam schlendert er zu dem riesigen Parkplatz des Discounters. Da wo früher die West-Autos durch die Grenzanlage rollten, steht heute ein großer Lidl-Supermarkt. „Früher war hier ein kleiner Park und ein Spielplatz“, erklärt er. „Als Kind, in den 1960er Jahren, habe ich hier Fußball gespielt.“ Wenn der Ball über den Zaun flog, der damals den Anfang der Grenzanlagen markierte, dann kletterte er einfach darüber. Manchmal schoss auch ein Grenzbeamter den Ball zurück. Doch irgendwann Ende der 1960 Jahre wurde die Mauer höher, das Viertel dadurch immer abgeschotteter – auch nach dem Mauerfall blieb das noch lange Jahre so.

Heute trennt die Bösebrücke nicht mehr den Wedding und Prenzlauer Berg, sondern offiziell Pankow und Mitte, und auch sonst ist vieles anders in Uwe Srednickis Leben geworden. An die Wochen und Monate nach dem Mauerfall kann er sich heute kaum noch genau erinnern: „In dieser ersten Zeit ist so viel passiert, so viele neue Eindrücke, so viel hat sich verändert.“

Nach der Wiedervereinigung hat er, wie so viele andere auch, seinen Job im Möbelkombinat verloren. Er fand zwar relativ schnell einen neuen in einer privaten Polsterei, aber Anfang der nuller Jahre war dort Schluss und er wurde wieder arbeitslos. Schließlich wagte er 2006 den Sprung in die Selbstständigkeit und machte einen kleinen Polsterladen in der Czarnikauer Straße auf. Schräg darüber, im ersten Stock, wohnt er. Neben dem Polsterladen arbeitet er noch als Hausmeister. So muss er sich wenigstens keine Sorgen um die Ladenmiete machen.

Das Nordische Viertel – eingeklemmt zwischen Pankow und Wedding, den Kleingartenanlagen und der Bornholmer Straße – schlief nach dem Fall der Mauer einen jahrelangen Dornröschenschlaf. Das änderte sich erst, als viele junge Studenten aus dem Prenzlauer Berg hier noch bezahlbare Wohnungen fanden. Heute sind selbst die letzten freien Baulücken im Viertel geschlossen. Allein in der Czarnikauer Straße, in der Uwe Srednicki wohnt und arbeitet, haben Baugruppen gleich zwei große Mehrfamilienhäuser errichtet, in denen viele Familien mit Kindern wohnen.

Mit der neuen Nachbarschaft versteht er sich gut.

„Meine Urgroßeltern kamen ja um die Jahrhundertwende auch mal irgendwann nach Berlin zum Arbeiten. Mütterlicherseits aus Baden-Baden, väterlicherseits aus Posen in Polen.“ Er findet, dass das Viertel lebendiger geworden ist – ein kleines bisschen wieder zu dem, was es einmal am Anfang des letzten Jahrhunderts war: ein überwiegend bürgerliches Viertel inmitten einer ungeteilten Stadt.

Uwe Srednicki hat sich eingerichtet in der neuen Zeit. Sein kleiner Polsterladen mit der Holzbank davor gilt als inoffizieller Nachbarschaftstreff. Hier werden Pakete abgeholt und im Sommer auf dem Bürgersteig Grillabende veranstaltet oder Fußball geguckt.

Obwohl er sich nie aus dem Viertel wegbewegt hat: Er hat sich mit dem Viertel bewegt. Und hat die Veränderungen angenommen. Er ist froh, dass damals alles so gekommen ist.

Nur eine Sache findet er nach wie vor schrecklich. Langsam schlendert er über die Norweger Straße zu dem riesigen Platz, auf dem sich der Grenzübergang befand. Er schaut auf den überdimensionierten Parkplatz. Nur wenige Autos stehen hier. Der Wind pfeift. „Den großen Supermarkt hätten die sich echt sparen können, den braucht keiner. Ich hätte mir gewünscht, dass sie hier einfach wieder einen kleinen Park mit Spielplatz hinbauen. So wie in meiner Kindheit.“

Noch einmal schüttelt er den Kopf, bevor er wieder zurück zu seiner Wohnung in der Czarnikauer Straße geht. „Aber na ja, so ist das eben. Auch mit so etwas kann man schließlich leben.“