New Yorks dämmrige Ladenzeile

Die Geschäfte am Broadway in Soho verschanzten sich 1980 nach Feierabend hinter Metallrollläden, Zeitungen und Plastiktüten trieben im Wind durch die finstere Straße. Einem Nachbarn wurde dort ein Jahr nach meiner Ankunft in New York die Kehle mit dem Messer angeritzt, danach hatte ich den Schlüssel schon einen Block vor der Haustür gezückt und einen 10-Dollar-Schein griffbereit in der Faust, falls ich es doch nicht schnell genug in den Flur schaffen sollte.

Wochentags konnte man ab neun in die Dämmerung verstaubter Stoffläden tauchen, ohne dass einen die chassidischen Eigentümer auch nur eines Blickes gewürdigt hätten, sie waren in ihre Buchhaltung versunken. Ab und zu weckte man zwischen den bis zur Decke gestapelten Stoffballen eine Katze mit Spinnweben in den Schnurrhaaren. Einen ganzen Häuserblock lang waren diese Schatzkammern, in die nun H&M, Armani, Prada, Uniqlo und Steve Madden eingezogen sind. Dort erlebt man keine Überraschungen.

Vor zehn Jahren wurde das dreistöckige Haus mit den Künstlerlofts und dem Eisenwarenladen gegenüber von meinem Apartment im Flatiron District abgerissen, ein hässlicher, 20-stöckiger Riese mit Starbucks und Bank of America im Parterre hat mir seither mein trapezförmiges Stück Himmel geraubt. Allein in den letzten zwei Jahren müssen in Manhattan mehrere Millionen Kubikmeter Licht und Luft verloren gegangen sein. Es gibt übrigens auch so gut wie keine Tankstellen mehr, überhaupt keine griechischen Coffee Shops mit Wandgemälden der Akropolis, Schuster sind schwer zu finden, Delis, in denen man sich ein Tuna Sandwich machen lassen konnte, sind fast verschwunden, den an meiner Ecke hat die Drogeriekette Duane Reade kolonisiert. Aber zumindest haben die früheren Angestellten aus Bangladesch einen Food Truck gekauft, den sie zur Freude der alten Kundschaft ein paar Meter weiter parken. Mit dem Halal-Stand und dem Kaffeewagen trösten sie sich über die Glas-und Neonkälte der fünf Banken, die ich von meinem Fenster aus sehe, ein wenig hinweg.

„Es ist doch alles besser“, meint Michael, der seit rund siebzig Jahren in Manhattan lebt, auf die Frage, was er in New York vermisst. Überall kleine gepflegte Parks, hübsche neue Lokale, kaum noch Dreck. Dann erzählt er, dass er in den 60er Jahren ein Zimmer, anständig möbliert, für 40 Dollar im Monat mieten konnte. Dass man damals lieber umgezogen sei, als die Wände frisch zu streichen – es gab eine unendliche Auswahl von Apartments. Bewegungsfreiheit – ihr Verlust ist schlimmer als zum Beispiel der Untergang einer Kulturikone wie das CBGB, dessen versiffte, graffitiüberwucherte und von vielen Drogentoden heimgesuchte Toilette vor ein paar Monaten als detailgenaue Nachbildung in der Punk-Ausstellung des Metropolitan Museums wiederauferstand.

Denn bei dem Verlustgefühl handelt es sich nicht um Nostalgie für die gloriosen wilden, schäbigen Zeiten, sondern es geht um eine zunehmend enge, vermauerte, unerschwingliche Zukunft. CLAUDIA STEINBERG