„Die Menschen haben Angststörungen“

ASYL I Traumatisierte Menschen brauchen Sicherheit, Ruhe und stabile soziale Kontakte wie die zu Mentoren, meint Dietrich F. Koch, Leiter von Xenion, einem Beratungszentrum für Flüchtlinge

■ 58, Diplompsychologe und Psychologischer Psychotherapeut, leitet die Berliner Einrichtung Xenion – Psychotherapeutische Beratungsstelle für politisch Verfolgte. Als Psychotherapeut kümmert er sich auch um Flüchtlinge vom Oranienplatz.

INTERVIEW SANDRA LÖHR

taz: Herr Koch, Sie behandeln seit Jahren traumatisierte Flüchtlinge in Berlin. Mit welchen Krankheitsbildern kommen die Menschen hier an?

Dietrich Koch: Die häufigste Form, die wir erleben, ist die Posttraumatische Belastungsstörung, hervorgerufen durch die Erlebnisse der Flüchtlinge in ihrer Heimat: also Krieg, Gewalt, Verfolgung und Folter. Aber auch die Flucht traumatisiert viele. Manche sind ja jahrelang unterwegs, weil es keine legalen Wege nach Europa gibt, viele riskieren ihr Leben dabei.

Wie viele der Flüchtlinge sind traumatisiert, die hier in Deutschland Asyl suchen?

Man schätzt, dass es zwischen 30 und 50 Prozent sind. Aber viele von ihnen bekommen gar keine psychotherapeutische Hilfe. Jedes Jahr behandeln wir zirka 250 Patienten. Es ist nicht so leicht, einen Antrag auf Psychotherapie überhaupt durchzukriegen. Ein Viertel aller Anträge wird abgelehnt, manche Flüchtlinge müssen über ein Jahr auf die Therapie warten, da die Zentrale Leistungsstelle für Asylbewerber total überlastet ist.

Wie äußern sich diese Traumata konkret?

Die Menschen haben Angststörungen und Depressionen, sie werden von Erinnerungen gequält, von denen sie nicht mehr loskommen. Bilder von schrecklichen Gewalttaten, Morden und Folter, die sie selbst erlebt haben oder mit ansehen mussten. Manchmal sind diese Erinnerungen im Erleben so intensiv und realistisch, als würde sich das Trauma gerade wieder ereignen. Das nennt man Flashbacks. Die Folge davon ist, dass sie sich schlecht konzentrieren können und sich nur sehr schlecht auf die neue Situation hier in Deutschland einlassen können. Eigentlich bräuchten sie jetzt ihre ganze Kraft für den Neuanfang. Aber das gelingt den wenigsten. Besonders ihre Kinder leiden darunter, denn viele der traumatisierten Flüchtlinge können sich nicht mehr richtig auf sie einstellen.

Was bräuchten diese Menschen am dringendsten?

Das Trauma zerstört das Sicherheitsgefühl, deswegen ist es ja so wichtig, den Flüchtlingen Sicherheit und Ruhe zu geben, aber genau das Gegenteil ist der Fall. Die Flüchtlinge sehen sich ständig mit der drohenden Abschiebung konfrontiert. Gleichzeitig finden sie sich hier in einer fremden Umgebung, sie haben keine Familie oder Freunde, die sie unterstützen können.

Deshalb haben Sie letztes Jahr das Mentorenprogramm gestartet, bei dem Berliner ehrenamtlich Flüchtlingen helfen?

Richtig. Denn für den Erfolg einer solchen Psychotherapie braucht es nicht nur ein Dach über dem Kopf, sondern auch stabile Kontakte. Die ehrenamtlichen Mentoren sind sozusagen unsere Multiplikatoren. Sie helfen den Flüchtlingen nicht nur beim Stellen des Asylantrags oder bei der Suche nach einer Wohnung, sondern sie tragen mit zur Gesundung bei.

Wie wird das finanziert?

Ein Großteil der Gelder für die Therapien kommt vom Land Berlin. Daneben gibt es noch Zuwendungen von anderen internationalen Organisationen wie beispielsweise der UNO-Flüchtlingshilfe oder Amnesty International. Aber wir sind chronisch unterfinanziert und daher dringend auf Spenden angewiesen. Das Mentorenprogramm wird von der Robert-Bosch-Stiftung, der Paritätischen Stiftung, der Losito-Kressmann-Zschach-Stiftung und Spenden getragen. Aber gerade beim Mentorenprogramm könnten wir noch viel mehr machen. Derzeit betreuen wir mit einer halben Stelle 50 Mentorenpartnerschaften, aber wir haben viel mehr Anfragen, als wir Mentoren betreuen könnten. Unsere Infoabende sind immer rappelvoll.

Warum ist eine professionelle Begleitung des Mentorenprogramms so wichtig?

■ ist ein Beratungs- und Behandlungszentrum für traumatisierte Flüchtlinge. Neben der psychotherapeutischen und medizinischen Behandlung bietet der Verein unter anderem auch eine Sozialberatung sowie die Begleitung von Flüchtlingen durch deutsche Ehrenamtliche (Mentorenprogramm) an.

■ Mehr Informationen über den Verein unter: www.xenion.org

■ Spenden an Xenion: Bank für Sozialwirtschaft, Iban: DE73100205000003052403 BIC: BFSWDE33BER

Viele Flüchtlinge haben durch ihre Erlebnisse ein Misstrauen anderen Menschen gegenüber. Sie können sich nur schwer öffnen. Die Mentoren müssen das wissen, die Verhaltensweisen richtig deuten und dürfen vieles nicht persönlich nehmen. Die meisten Menschen haben genug Einfühlungsvermögen, daher geschieht es manchmal, dass die Mentoren Stellvertreter-Traumatisierungen entwickeln. Ängste stecken eben an. Deshalb muss so ein Prozess professionell begleitet werden und braucht Supervision.

Berlin hat viele Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen. Ist die Arbeit mit diesen Flüchtlingen besonders schwierig?

Die Situation von Syrern ist oft besonders dramatisch. Viele haben noch Familienangehörige in Syrien, sie verfolgen die Geschehnisse dort genau, sehen die Gräuelvideos des IS-Staates auf YouTube, was zu weiteren Traumatisierungen führt. Das alles ist dann sehr präsent in den Therapien. Aber was mich und uns immer wieder erstaunt: Viele Flüchtlinge bringen einen unerschütterlichen Glauben mit, dass sie es schaffen. Deshalb bringt die Arbeit auch den deutschen Mentoren so viel. Es ist für die meisten ungeheuer bereichernd, einen Flüchtling auf diesem Weg zu begleiten. Also mitzuerleben, wie es ihm irgendwann besser geht, er sich einlebt.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Ich habe das Gefühl, in der Öffentlichkeit passiert gerade etwas. Die Notlage der Flüchtlinge ist jetzt viel präsenter in den Medien. Darüber bin ich sehr glücklich. Und doch: Der größte Feind ist die rigide Asylpolitik. Das ist alles so destruktiv, teilweise so ohne Wohlwollen, wir erleben jede Form der Willkür.