Deserteure: „Rehabilitieren, ehe sie wegsterben“

Die deutsche Kriegsjustiz fällte 20.000 Todesurteile im Zweiten Weltkrieg/ Deserteure der Wehrmacht und „Wehrkraftzersetzer“ gründeten Interessenverband/ Sie wollen als Nazi-Opfer anerkannt und entschädigt werden  ■ Aus Bremen Michael Weisfeld

„Seit 45 Jahren habe ich versucht, mir die Vergangenheit irgendwie aus dem Kopf zu schlagen“, sagt Luise Röhrs, „aber die vergangenen Tage, das war, als wäre in ein Hornissennest gestoßen worden.“ Die 77jährige ist am vergangenen Wochenende in Bremen zur Zweiten Vorsitzenden der „Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz“ gewählt worden, den 23 ehemalige Deserteure und „Wehrkraftzersetzer“ dort gründeten. Sie wollen erreichen, daß die wenigen Überlebenden Kriegsgegner endlich als politisch Verfolgte anerkannt und für das erlittene Unrecht entschädigt werden.

Zu Beginn der Tagung trug der Historiker Manfred Messerschidt, bis vor einem Jahr Leiter des Militärgeschichtlichen Forschungsamts der Bundeswehr in Freiburg, vor, in welchem Ausmaß deutsche Soldaten im Zweiten Weltkrieg selbst Opfer wurden: Schätzungsweise 20.000 Todesurteile haben deutsche Militärrichter während des Zweiten Weltkrieges gefällt, von denen etwa 15.000 vollstreckt wurden. Damit übertrafen die Militärrichter die Hinrichtungsrate des berüchtigten Volksgerichtshofs Roland Freislers um das Dreifache. Ein Vergleich mit den alliierten Kriegsgegnern Deutschlands macht das Massaker der „furchtbaren Juristen“ unter ungehorsamen Soldaten deutlich: Die US-Army richtete einen ihrer Angehörigen während des Krieges wegen einer Vergewaltigung hin, die britische Armee keinen.

Nicht nur Soldaten fielen der Militärjustiz der Wehrmacht zum Opfer. Luise Röhrs, die Zweite Vorsitzende des neu gegründeten Interessenverbandes, war 1944 Luftwaffenhelferin in der niedersächsischen Kleinstadt Bassum. Nach dem fehlgeschlagenen Attentat auf Hitler vom 20. Juli sagte Luise Röhrs in der Küche des Luftwaffenstützpunktes sinngemäß: „Schade, daß das nicht geklappt hat, dann hätte es vielleicht Frieden gegeben.“ Sie wurde denunziert und mußte sich schon am 26. Juli vor dem „Feldgericht der 2. Jagddivision“ verantworten. Den Vorsitz führte Kriegsgerichtsrat Dr. Struck. 350 Luftwaffensoldaten waren in den Gerichtssaal befohlen worden, als Struck das Todesurteil verkündete.

Verfolgung oder „Unmutsäußerung“

Drei Monate lang wartete sie im Bremer Zuchthaus auf ihre Hinrichtung. Jede Nacht wurden ihr, der Todeskandidatin, Handschellen angelegt. Schließlich wandelte der „Reichsmarschall und Oberbefehlshaber der Luftwaffe“, Hermann Göring, die Todesstrafe „auf dem Gnadenwege“ in zehn Jahre Zuchthaus um. Die Frau blieb bis Kriegsende in Haft.

Für das erlittene Unrecht wurde Luise Röhrs nach dem Krieg nicht entschädigt. Der Satz, der sie 1944 in die Todeszelle brachte, galt dem Bremer Amt für Wiedergutmachung nur als „gelegentliche Unmutsäußerung“. Frau Röhrs habe ihre politische Gegnerschaft zum nationalsozialistischen Regime nicht nachweisen könnte, heißt es im Bescheid des Amtes. Was sie 1944 vor dem Kriegsgericht zu ihrer Entlastung vorbrachte, wurde ihr 1959 vom Wiedergutmachungsamt zum Nachteil ausgelegt: ihre Mitgliedschaft in der NS-Frauenschaft. Ludwig Baumann, am Wochenende zum ersten Vorsitzenden der „Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz“ gewählt, sieht in dem Amtsbescheid „furchtbaren Zynismus. Die Offiziere des 20. Juli, die als Widerstandskämpfer gefeiert werden, brauchen sich nicht fragen zu lassen, ob sie den Überfall auf die Sowjetunion mit über zehn Millionen toten Zivilisten mitgeplant hatten.“

Zynismus mit System

Der „furchtbare Zynismus“, den Baumann sieht, hat in der Bundesrepublik System. Das Bundesentschädigungsgesetz und die Rechtsprechung der höchsten Gerichte sehen eine Entschädigung von NS-Opfern nicht vor, wenn sie gegen die Wehrmachtsdisziplin verstoßen haben und deswegen verurteilt wurden. Das erläuterte bei der Bremer Tagung Günter Saathoff, Mitarbeiter der Bundestagsfraktion der Grünen. Ganz ähnlich sei die Lage in der DDR gewesen, sagte Saathoff. Dort sei als Widerstandskämpfer nur anerkannt worden, wer Kommunist oder zumindest „Antifaschist“ war und zielstrebig in der Wehrmacht politisch handelte. Für solche Leute habe es hohe „Ehrenpensionen“ gegeben. Für Deserteure und Kriegsdienstgegner aus anderen Gründen nicht.

Deserteur, weil ich frei sein wollte

Ludwig Baumann war 22 Jahre alt, als er in Bordeaux von der Marine desertierte. „Weil ich frei sein wollte, weil ich kein Soldat sein wollte, weil ich niemanden töten wollte, und weil ich nach Amerika wollte.“ Er wurde schon am nächsten Morgen nach der Flucht von deutschen Zollbeamten gefaßt, schoß nicht, obwohl er eine Pistole in der Tasche hatte. Er wurde zum Tode verurteilt und saß vier Monate lang in der Todeszelle.

Jeden Morgen, wenn die Wehrmachtswachen auf dem Hof des Stadtgefängnisses von Bordeaux wechselten und an seiner Zelle vorbeistampften, glaubte er, daß das Erschießungskommando ihn nun holen würde. Baumann saß noch in der Todeszelle, als sein Urteil schon längst in zwölf Jahre Zuchthaus umgewandelt war, die er — so der Gnadenerlaß des Marineoberbefehlshabers Reeder — nach Kriegsende abzusitzen hatte. Schließlich kam er ins Konzentrationslager Esterwegen im Emsland, von dort ins Militärstraflager Torgau und kam schließlich als Angehöriger des „Strafbataillons 500“ in die Ukraine.

Gesetzentwurf der Grünen im Bundestag

Bei den Himmelfahrtskommandos der Strafbatallione sind die allermeisten der begnadigten Deserteure und „Wehrkraftzersetzer“ ums Leben gekommen. Über seine Erlebnisse in der Ukraine erzählt der rührige und diskussionsfreudige Baumann bis heute kein Wort. Beschädigt an Leib und Seele kam er aus dem Krieg zurück. Er vertrank das beträchtliche Vermögen seines Vaters und wurde Handlungsreisender.

Im Nachkriegsdeutschland mußte er erfahren, was Nachbarn und Bekannte von seinesgleichen hielten: „Na, du warst wohl ein kleiner Feigling“, war noch der wohlmeinendste Kommentar. Baumann hat sich schon in den vergangenen Jahren um die Rehabilitierung der Deserteure bemüht, etwa bei der Auseinandersetzung um Deserteursdenkmäler in Bremen und Bonn. „Die den Krieg brav mitgemacht haben, haben das Recht auf ihrer Seite“, sagt er, „zum Beispiel die SS-Leute, die mich mißhandelt haben, kriegen eine dicke Rente, aber uns wird die Zeit unserer Haft nicht auf die Rente angerechnet. Das wollen wir jetzt ändern, ehe die letzten Opfer der Militärjustiz weggestorben sind.“

Die Grünen haben einen Gesetzzentwurf in den Bundestag eingebracht (taz vom 30.8.1990), über den in erster Lesung am 20. September diskutiert wurde. Das Gesetz soll festlegen, daß die von der nationalsozialistischen Militärjustiz Verurteilten als politisch Verfolgte anerkannt werden, und daß sie und ihre Hinterbliebenen entschädigt werden wie andere NS-Verfolgte auch.

Für die SPD ging der Bremer Bildungssenator Henning Scherf am vergangenen Samstag vor den Deserteuren und „Wehrkraftzersetzern“ auf diese Forderungen ein. „Wir sollten uns als Deutsche der Weltkriegsdeserteure und Verweigerer nicht länger schämen“, sagte er, „sondern sie ehren wie die anderen Opfer des Krieges.“ Scherf regte vorsichtig eine „Neubewertung und Anerkennung der Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen während der Zeit der Nazi-Herrschaft“ an und die Forderung nach Entschädigung der Opfer und ihrer Hinterbliebenen. Morgen wird in den Bundestagsausschüssen für Inneres sowie für Arbeits-und Sozialordnung weiter über den Gesetzentwurf der Grünen diskuiert.