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: Das kranke Herz in der Mitte

Das kranke Herz in der Mitte

Vor einem Jahr, am 20. Juni 1991: Berlin jubelt, Berlin baut, Berlin boomt. Berlin, das neue europäische Metropolis. Der Bär tanzt mit dem Bundesadler. Die Entscheidung des Bundestages, auch den Regierungssitz an die Spree zu verlagern, wird wie ein Lottogewinn gefeiert. Als seien damit alle dunklen Seiten der Gegenwart wie weggefegt durch den jetzt kommenden, alle beglückenden gewaltigen Aufbruch nach vorn.

Doch wo es kein durchdachtes Konzept gibt, wird es noch schwerer, den impetuosen Zwängen der Warengesellschaft zu widerstehen. Ein Jahr später macht sich Ernüchterung breit: Statt zusammenzuwachsen, wuchert Berlin vor sich hin. Makler, Manager und die Inflation bestimmen das Tempo. Die Planer kommen nicht mehr mit. Auf der Strecke bleiben Arme, Alte, Ausländer und Alternativen. Und auf dem Weg zur neuen europäischen Großmetropole scheint sich die Spaltung Berlins wieder zu vertiefen.

In Bonn reiben sich die Unterlegenen der Bundestagsentscheidung bereits kräftig die Hände: Da seht ihr's, wo uns Kohl, Brandt, Schäuble, Genscher oder Vogel, diese Vereinigung der alten Männer und nationalen Schwärmer, hingebracht haben. Die Bemühungen, den Beschluß rückgängig zu machen, werden stärker, finden eine wachsende Resonanz.

Ich habe am 20. Juni 1991 für Bonn gestimmt. Nicht, weil ich ein Anhänger des Adenauerschen Provisoriums am Rhein bin, sondern, gerade auch aus ökologischen Gründen, Befürworter von Dezentralität. Jede überwuchernde Komplexität, so auch die von Metropolis, führt zur Unbeweglichkeit. Sie zeigt wie in einem Brennglas das Grundproblem moderner Gesellschaften: die gewaltige Dynamik von zeitlicher und räumlicher Entgrenzung und die wachsende Komplexität in und zwischen den Teilbereichen, durch die die Gesamtordnung starr und unbeweglich wird.

Doch ich will mich nicht daran beteiligen, die getroffene Entscheidung zu revidieren. Es gibt schon genug Bonner Peinlichkeiten. Vielmehr gilt es, sich stärker einzumischen: Berlin darf nicht zum Symbol der mißlingenden Einheit werden, zum Symbol eines Anschlusses, der in Einfaltslosigkeit und Größenwahn unterzugehen droht. Die Zukunft Berlins ist eine politische Frage mit hoher Ausstrahlung auf die ganze Republik. Deshalb dürfen wir uns nicht in den Konzepten einer niedergehenden Epoche versteigen.

Die Metropolen sind Motor und Zentren der industrialisierten Produktions- und Lebensweisen, die in besonderer Weise zum sozialen und republikanischen Fortschritt der Moderne beigetragen haben, aber heute zum Weg in die ökologische Selbstzerstörung werden. Die Städte müssen heute zum Ausgangspunkt des Umbaues und der Selbstbegrenzung werden. Dafür ist Berlin sicher eine besonders große Herausforderung, aber, zumal die Zeit für lange Experimentierphasen nicht mehr da ist, auch eine große Chance. Berlin als Vorreiter im ökologischen Umbau der Metropolen.

Statt sich der ungestümen Entwicklung anzupassen, neue Maßstäbe erproben. Nicht alles Gigantische in die Stadt holen, was überhaupt zu holen ist, sondern sich zum Ziel setzen, daß sich die Stadt selbst erneuert — in ihrer Sozialität wie in ihrer Verträglichkeit mit der Natur. Der ökologische Umbau muß zentral wie dezentral ansetzen, aber er ist auf jeden Fall vor allem lokal konkret. Doch hier tun sich bisher fast ausschließlich kleinere Städte hervor, so wie Rottweil, Tübingen oder Erlangen, über Aachen und Saarbrücken sind die wirklichen Anstöße bisher nicht hinausgegangen.

Nach den Worten des US-Biochemikers Erwin Chargaff können nur Menschen, die die Gabe der Stumpfheit haben, noch glauben, daß die Welt regierbar sei. Dieser Eindruck verfestigt sich bei den Menschen: Nach einer neueren Umfrage glauben rund 75 Prozent der Bürgerinnen und Bürger, daß die Erde nicht mehr zu retten sei. Doch Untergangsstimmung führt dazu, sich einzurichten — getreu der Selbsttäuschung: »Ich kann doch nichts tun«. Deshalb ist Berlin auch eine Chance: in einer Umbruchphase zu motivieren für ehrgeizige Ziele, die zugleich einen »ökologischen Dominoeffekt« auslösen. Indem die Erneuerung in Berlin ein Erfolg wird, werden in ganz anderer Weise als bisher auch andere zum Mitmachen gezwungen. Berlin als Vorreiter für den sozialökologischen Umbau, für eine neue Kultur des Zusammenlebens in den Metropolen, das freilich erfordert eine ganz andere Politik als die bisherige Berliner Mischung zwischen Provinzialismus und bunten Sprenkeln.

Man kann Berlin nur raten, nicht in die Konkurrenz der Vorzeigegigantomanie einzusteigen, sondern sich um den eigentlichen Zukunftsbedarf zu kümmern. Das heißt Abschied nehmen von Großprojekten wie der Olympiade und Rückbesinnung auf die polyzentrische Stadt mit ihren spezifischen Chancen für eine neue, weniger umweltschädliche Mobilität, für eine verbrauchernahe Energieversorgung, für eine Entmaterialisierung der Stadt, um damit für eine Metropole, die auf die alte Frage »Wie ist Fortschritt möglich?«, die sich jetzt mit aller Kraft zurückmeldet, eine neue und überzeugende Antwort zu geben.

Michael Müller ist SPD-Bundestagsabgeordneter.

In der Stadtmitte schreiben Persönlichkeiten zu den Problemen Berlins.