■ Ökokolumne
: Perspektive Ökologie Von Michael Müller

Nach zwanzigjähriger Debatte über die sozialen und ökologischen Grenzen des Wachstums bestreitet heute kaum jemand mehr die großen Gefahren aus der fortgesetzten Naturzerstörung, die in einem engen Zusammenhang mit der wachsenden Ungleichheit auf der Erde stehen. Die Menschheit ist heute in einer Weise informiert, die durch weitere Bedrohungsszenarien kaum noch gesteigert werden kann.

Und doch wächst der bedrohliche Widerspruch zwischen dem großen Wissen über die Gefahren und den geringen Konsequenzen, die daraus gezogen werden. Wie kein anderer Etat sollen z.B. die eh schon bescheidenen Finanzmittel des Bundesumweltministers für 1993 noch um 3,5 Prozent heruntergekürzt werden. In der Öffentlichkeit mehren sich die Stimmen, die für längst überwunden geglaubte expansive Verhaltensmuster plädieren, als ob ökologische Zurückhaltung die ökonomische Instabilität beseitigen kann. Die Unterordnung unter den alten Machbarkeitswahn von Wirtschaft und Technik gewinnt neuen Auftrieb: Die Kolonialisierung Dritter im Interesse des Wachstums — der Entwicklungsländer, der Natur, der Zukunft.

Der Umweltbewegung bläst der Wind kräftig ins Gesicht. Gerade jetzt, wo es darauf ankommt, durch die Hinwendung zur Ökologie einen Ausweg aus der Krise aufzuzeigen, agiert sie zunehmend larmoyant bis resignativ. Ihr fehlt eine reformpolitische Theorie sozialer und ökologischer Veränderungen. In den entscheidenden Fragen einer gesellschaftlichen Transformation bietet auch die Umweltbewegung keine politisch überzeugenden Konzepte an.

Die sich aufstauenden Fehlentwicklungen sind aber mit Teilkorrekturen nicht zu beseitigen. Trotz einzelner Gegenmaßnahmen hat sich die Schadensentwicklung globalisiert und weiter vertieft. Es ist die innere Dynamik industrieller Systeme selbst, also die Art unserer Wirtschafts- und Lebensweisen, die ständig von neuem Instabilität, Ungleichzeitigkeit und Naturzerstörung produziert. Insofern muß eine Politik, die sich am Ziel der Ökologie orientiert, zu einem Reformprojekt für den Umbau der Gesellschaft insgesamt werden.

Die ökologische Verrottung der Erde, neue globale, auch militärische Risiken und die soziale Spaltung zwischen der Überentwicklung im Norden und der Unterentwicklung im Süden sind die unterschiedlichen Seiten eines Problems: Die Industriegesellschaften sind trotz aller Modernisierung in ihren heutigen kulturellen und organisatorischen Formen nicht zukunftsverträglich. Hierin liegt auch der Kern für die Krise des politischen Systems, denn aus dem „Weiter so“ der achtziger Jahre ist ein mehrheitliches „So nicht weiter“ geworden. Eine neue Identität zu schaffen, diese Aufgabe stellt sich unsere Gesellschaft so radikal wie nie zuvor nach 1945.

Hierfür kann die Ökologie, verstanden als eine Ausrichtung von Politik und Gesellschaft auf ein „organisches Wachstum der Menschheit“, wie es Aurelio Peccei vom Club of Rome darlegt, einen Ausweg aufzeigen. Und dabei müssen die Industrieländer deutlich zurückstecken.

Zeiten des Umbruchs sind Zeiten, in denen Orientierung verlorengeht, aber der Bedarf an Orientierung besonders groß ist. Dieser Aufgabe, neue Perspektiven zu bieten, darf sich die Umweltbewegung nicht entziehen. Deshalb plädiere ich gerade jetzt für ein ökologisches Zukunftsprogramm. Statt weiter im Klein-Klein zu bleiben, sind große Schritte in Richtung ökologischer Effizienzrevolution und Erneuerung des politischen Systems notwendig. Die Einigung Deutschlands (und die Einigung Europas) machen diesen Neuanfang möglich, wenn wir den ökologischen Umbau und die Reform der Verfassung ins Zentrum des Neuaufbaus der östlichen und der Reform der westlichen Bundesländer stellen.

Wichtige Ansatzpunkte liegen im Bereich der Energieversorgung, des Verkehrs und der Schließung der Stoffkreisläufe in Produktion und Konsum. Dazu müssen qualitative Reduktionsziele gesetzt, aus Nachsorge muß auch im Umweltrecht Vorsorge werden, und die Energie- und Rohstoffkosten müssen dynamisch gesteigert werden. Das erfordert eine gezielte Innovationspolitik, für die Finanzströme in Milliardengröße umgelenkt werden müssen.

Die sozialen und ökologischen Grenzen des Wachstums, der Zusammenbruch des Ostblocks und die schärfer werdende Nord-Süd-Polarität haben eine neue Lage geschaffen. Die Politisierung der ökologischen Frage ist eine Chance, hierauf national, europäisch wie global eine Antwort zu geben, die zukunfts- und friedensverträglich ist. Aber sie muß zuerst bei uns in den Industriegesellschaften gegeben werden.

Umweltpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion; Vorsitzender der Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt“