Zirkuskinder an der Macht

Im spanischen Bemposta haben Mädchen und Jungen eine eigene Regierung: durch ein Projekt, das sich mit Saltosprüngen über pädagogische Prinzipien hinwegsetzt  ■ Von Tobias Büscher

Gerade jetzt, wo in Galiciens Hauptstadt Santiago das Jakobsfest tobt, verirrt sich kaum jemand nach Ourense, eine der vier galicischen Provinzen nördlich von Portugal ohne Zugang zum Meer. Ourense ist verregnet, ärmlich, voller Monasterien und Klöster, verlassener Dörfer, Anbaugebiete des roten und weißen, süffigen Ribeiroweines und Heimat eines von Kindern regierten Staates. Die Römer hatten die gleichnamige Hauptstadt „Auria“, die Goldene, genannt. So gar nicht entsprechen dem über 30 Prozent der Bevölkerung, die unterhalb der Armutsgrenze leben. Ourenses Vorstadt ist schwierig verbaut. Nirgendwo in Galicien ist eine Gegend nach dem spanischen Bürgerkrieg 1936 bis 1939 so von Hunger und Armut heimgesucht worden wie diese. Ende der 50er Jahre führte das zu einem gewaltigen Exodus von Emigranten über die Pyrenäen in die Schweiz, nach Deutschland und Frankreich. Und in der „Goldenen“ trugen die Zurückgebliebenen Schwarz.

In dieser Zeit stöberte in Ourense ein gutes Dutzend verwaister, verlumpter Straßenjungen nach Eßbarem. Sie hatten noch keine Ahnung, bald einem Projekt anzugehören, daß sich mit einem akrobatischen Saltosprung über pädagogische Prinzipien und kirchliche Dogmen hinwegsetzen sollte: Ein junger, galicischer Pater in Bluejeans dachte gerade über einen Kinderstaat nach, wie er es in einem kleinen Kinosaal in Ourense gesehen hatte.

30 Jahre später. An der alten Nationalstraße 525 von Ourense Richtung Madrid taucht nach sechs Kilometern eine Tankstelle auf. Ihre jüngsten Besitzer sind vier Jahre alt. Es sind die muchachos de Bemposta, die Bemposta-Kinder.

Eine Kurve weiter am Schlagbaum wartet der „Grenzbeamte“ mit dunkler Haut und Kruselkopf im Vorschulalter. Der Kleine bittet den Besucher freundlich zu warten und sucht nach der Delegierten für Öffentlichkeitsarbeit. Sei scheint nicht leicht auffindbar zu sein, den es dauert einige Zeit bis der Kleine sie dem Besucher präsentiert. Anne heißt sie, Anne Wolf aus Hamburg, die bislang einzige Deutsche in diesem Zwergenstaat. Die Muchachos haben die junge Frau ins Amt gewählt, nachdem sich die freie Journalistin nach einer Bemposta-Recherche entschieden hatte, für immer hier zu bleiben. Hier auf einem ehemaligen Weingut südlich Ourenses wächst seit drei Jahrzehnten eine „Nation der Kinder“. Sie hat ein eigenes Parlament mit einem zwölfjährigen Bürgermeister und Wahlkampf alle zwei Jahre, eine selbstgebaute Schule, eine grünorangene Flagge, ein eigenes Tonstudio, Handwerksläden, einen Friseursalon, ein Zirkuszelt und sogar eine eigene Währung. Die „corona“ kann in der Bank gegen Peseten getauscht werden.

Wechselkurs: 200 Coronas sind rund 1.000 Peseten, also 15 Mark. Auf den selbstgedruckten Geldlappen sind junge, gelockte Köpfe abgebildet. Diese Scheine verdienen sich die 150 Jungen und Mädchen aus 15 Nationen für ihre Arbeit in der Bäckerei, in der Küche, auf dem Feld oder in der Schule für das Lernen. Wer schwänzt, ist schnell pleite. Anne weiß, daß in dem Kopf fast jeden Besuchers sofort Skepsis aufkommt. Portugiesische, spanische und lateinamerikanische Kinder zum großen Teil noch vor der Pubertät sollen sich selbst regieren können? Steht diese „Gegengesellschaft“ mit dem unzweideutigen Ambiente eines Abenteuerspielplatzes nicht fest unter Kontrolle ihres Gründers? Ist es nicht eine romantische Mär, daß kolumbianische Diplomatensöhne, japanische Arzttöchter und Straßenkinder aus Lissabon und Marokko einen Kinderstaat leiten können? Ist es nicht verwunderlich, daß alle Kinder auf die Frage, wie es ihnen gefällt, in verdächtig ähnlicher Wortwahl vom Idealmodell hier und der falschen Gesellschaft draußen sprechen? Ein kurzer Besuch reicht kaum für klare Antworten. Sicher ist: Der Gründer, Jesuitenpater Silva, hat das Sorgerecht für die 150 Kinder übernommen. Und der Pater hat die Stützen dieses Staates entwickelt: die Kirche, die Schule und den Zirkus. Als Silva – ein Neffe des Gründers des Madrider Zirkus Price – neun Jahre alt war, sah er mit Begeisterung Spencer Tracy in dem Film „Boy Town“. Sagt er. Eine Idee sei geboren worden. Noch als Theologiestudent organisierte er im Haus seiner Mutter eine Art Wohngemeinschaft für fünfzehn verwahrloste Waisenkinder. Mit einem klapprigen Lastwagen zogen sie durch die Provinzhauptstadt auf der Suche nach Lumpen und Flaschen. Schon ein Jahr nach der Gründung gewannen die Bengels völlig überraschend die spanische Hockey-Jugendmeisterschaft. Später siedelte die langsam anwachsende Gemeinschaft nach Bemposta um, wo der Pater den heute berühmten Zirkus „Los muchachos“ aufbaute.

Mittlerweile gehen die Kinder mit Trapez, Menschenpyramide und Friedenstaube auf internationale Tourneen. Der „circo“ ist ihre Haupteinnahmequelle, daneben getöpferte Don Quijotes, die Restauration von Klöstern und in Zukunft ein selbstgebautes Hotel. Die Kinder organisieren die Mahlzeiten und essen die Pommes, Spiegeleier, ein kleines Stück Käse und die Salatblätter vollständig auf, „weil die anderen Kinder in der Welt hungern und wir nichts wegwerfen“. Phantasievoll haben sie ihre kleinen Häuser gebaut und angestrichen, den Gassen Namen wie „Frieden“ gegeben und mit dem Anstieg auf 150 Kinder immer mehr Wohnbaracken gebaut. Deren Inneres soll der Besucher nicht sehen, weil die Zimmer ihre geteilten Privaträume sind. Die Delegierte für Öffentlichkeitsarbeit spricht allgemein von einem autarken, auch wirtschaftlich gut funktionierenden Staat, um jede genaue Angabe zu vermeiden. Auf jeden Fall hat sich Bemposta bislang halten können. Der Pater betreute bereits über 25.000 Kinder. Sie seien Handwerker, Ärzte und Entwicklungshelfer geworden, sagt Anne, nie aber Schönheitschirurgen, Makler und Juweliers. Den Buchautor, der nach jahrelanger Erfahrung von Machtintrigen und Scheinwelt schrieb, erwähnt sie nicht.

Petitionen von Kindern aus aller Welt, die begeistert den Zirkus sahen und mitmachen wollen, liegen stapelweise vor. Es ist die Arena, das Trapez, das wie ein Magnet auf Kinderaugen zu wirken scheint. Wenn sie älter sind, ab dem fünfzehnten Jahr, können sie sich freiwillig zum „Großen Abenteuer“ melden. Das heißt neuerdings auch ein Jahr Entwicklungshilfe in Lateinamerika. Schon länger gibt es das mehrwöchentliche, asketische Leben in einer Klosterruine, eine Betteltour durch das Land und Arbeit im Krankenhaus und auf See. Früher einmal sollen die Jugendlichen von Bemposta sogar Fahrräder geklaut haben, um das Knastleben zu erfahren. Wie eine christliche Urkommune nach Grundsätzen der Befreiungstheologie liegt Bemposta versteckt im galicischen Hinterland, um von dieser Nische aus die Welt zu verändern.