■ Ökolumne
: Atomkasse leeren Von Michael Müller

Der Verhaltensforscher Konrad Lorenz hat zwei Gruppen von Menschen ausgemacht: „Es kann nur Leute geben, die gegen die Atomkraft sind. Oder es gibt solche, die noch nicht darüber nachgedacht haben.“ Trotz 40 Milliarden Mark staatlicher Finanzhilfen allein für Forschung und Entwicklung erreicht die nukleare Stromerzeugung in der Bundesrepublik lediglich einen Anteil von sechs Prozent an der Endenergie. Die Menschheit wäre dem Solarzeitalter einen großen Schritt näher gekommen, wenn nur ein Teil der Aktivitäten und Gelder in alternative Energien investiert worden wäre.

Doch die Geschichte der Atomindustrie ist die Geschichte der Verharmlosung von Risiken und der Übertreibung von Chancen. Schon als sich am Kaiserstuhl Ende der sechziger Jahre Hausfrauen, Winzer und Pfarrer gegen den Bau des geplanten Atomkraftwerks Wyhl wehrten, begann in Deutschland der Widerstand. Die Atomwirtschaft reagierte mit einer Angstkampagne. Hand in Hand mit den jeweils Regierenden malte sie die Gefahr an die Wand, daß ohne Atomkraft die Lichter ausgingen. Selten haben sich Lobbyisten und Technokraten gründlicher blamiert als mit ihren Energieprognosen: Der Tag, an dem 1994 in Deutschland die höchste Stromnachfrage registriert wurde, war der 16. Dezember. Sie betrug 61.100 Megawatt. Die mögliche Nettoleistung der Kraftwerke lag am 16. Dezember bei 94.600 Megawatt. An diesem Tag wurden 20.135 Megawatt Atomenergiekapazitäten genutzt. Mit anderen Worten: Ohne Einfluß auf die Sicherheit der Stromversorgung können alle Atomkraftwerke abgeschaltet werden.

Bleibt das Argument der Atomwirtschaft, ein Ausstieg erhöhe die mit der Stromerzeugung verbundenen CO2-Emissionen um rund 50 Prozent. Richtig ist, daß ein Sofortausstieg kurzfristig zu einem Anstieg führen würde. Richtig ist aber auch, daß ein Festhalten an der Atomenergie die Klima-Gefahren nicht verringern kann. Denn ohne den Ausstieg aus der Atomkraft ist der Einstieg in die Effizienzrevolution, das heißt in die drastische Senkung des Verbrauchs, nicht möglich. Die hohen Bau- und Unterhaltungskosten der Atomkraftwerke zwingen dazu, Absatzmärkte aggressiv zu erobern und zu verteidigen.

Das technische Potential der Energieeinsparung ist groß, wie eine Auswertung und Hochrechnung von 170 Einsparmaßnahmen belegt, die das Wuppertal Institut erstellt hat. Würden die Einsparmärkte in den nächsten 15 Jahren gezielt erschlossen, könnte die volkswirtschaftliche Energierechnung im Schnitt um rund 80 Milliarden Mark pro Jahr gesenkt werden. Diese Kosteneinsparung liegt deutlich über den notwendigen Investitionen in der Effizienzrevolution – und würde rund 500.000 neue Arbeitsplätze schaffen.

Die Konzepte sind da. Was fehlt, ist der politische Wille. Alle, jede Partei oder jeder Verband, reden vom Energiesparen. Doch scheinbar versteht jeder etwas anderes darunter. Hier liegt der eigentliche Kern des Streits über die zukünftige Energiepolitik. Solange nicht geklärt ist, was die Effizienzrevolution erfordert, gibt es keinen neuen Energiekonsens. Sie ist nämlich nicht die Ergänzung der heutigen Art der Energieversorgung um Maßnahmen des Energiesparens, sondern erfordert eine grundlegende Neuorientierung, um die Erzeugungsmärkte durch Vermeidungsmärkte zu ersetzen. Ohne den Ausstieg aus der Atomkraft, die Ersetzung des Energiewirtschaftsgesetzes von 1935 durch ein Energiespargesetz oder die ökologische Steuerreform wird dieses ehrgeizige Ziel nicht zu verwirklichen sein.

Es gibt auch eine Geldquelle, um die Energiewende zu finanzieren. Die Betreiber der Atomkraftwerke müssen betriebliche Rückstellungen für die Entsorgung des radioaktiven Mülls bilden. 44 Milliarden Mark haben sich inzwischen angesammelt. Mit diesem Geld kaufen sich die Energieversorger in Tankstellenketten, Müllanlagen oder die Telekommunikation ein. Statt dessen sollten die Rückstellungen – wie in der Schweiz – in einen öffentlichen Fonds fließen. Schon die Zinsen würden ausreichen, um den Umbau der Energiewirtschaft in Gang zu setzen.