OLG-Urteil gegen Brechmittel

■ Hessische Richter: Zwang zum Brechmittel-Einsatz verstößt auch bei mutmaßlichen Dealern gegen die Menschenwürde / Reaktion des Rotgrüner Innenministers: Dann muß das Gesetz geändert werden

Frankfurt/Main. Der Einsatz von Brechmitteln gegen Drogendealer zur Beweissicherung ist rechtswidrig. Das hat der I. Strafsenat des Oberlandesgerichts (OLG) Frankfurt am Freitag entschieden. Der Einsatz eines Brechmittels geschehe „gänzlich ohne gesetzliche Grundlage“ und sei durch die Strafprozeßordnung nicht gedeckt, urteilte das OLG (Az 1 Ss 28/96). Mit Hinweis auf die Frankfurter Praxis wurde in Bremen die zwangsweise Brechmittelvergabe gerechtfertigt.

In dem Revisionsverfahren ging es um die Festnahme eines 28jährigen marokkanischen Drogendealers am 3. Januar 1995 in Frankfurt. Mit Hilfe eines Brechmittels spuckte der Marrokaner 20 „Kokain-Bömbchen“ aus, die er vor seiner Festnahme verschluckt hatte. Das Amtsgericht hatte den Einsatz des Brechmittels unter der Voraussetzung für rechtmäßig erklärt, daß dies unter ärztlicher Aufsicht geschehe.

Nach Auffassung des OLG hingegen verstößt der Einsatz von Brechreiz auslösenden Mitteln – wie etwa Sirup – vor allem gegen die Menschenwürde sowie gegen das Grundrecht auf körperliche und seelische Unversehrtheit. Ein Beschuldigter müsse Maßnahmen zur Beweissicherung lediglich dulden, dürfe aber nicht zu aktiver Mitwirkung gezwungen werden, erklärten die Richter. Die Frankfurter Polizei setzt im Kampf gegen Rauschgifthändler seit 1994 Brechmittel zur Beweissicherung ein.

Das OLG erkannte auf einen Verstoß gegen den Grundsatz der „Verhältnismäßigkeit“. Danach müsse das jeweils mildeste wirksame Mittel zur Beweissicherung angewendet werden: Das verschluckte Beweismittel könne ohne weiteres „durch natürliche Ausscheidung“ gesichert werden.

Das Amtsgericht hatte den Marrokaner wegen Drogenhandels zu einer Haftstrafe von neun Monaten auf Bewährung verurteilt. Im Berufungsverfahren vor dem Landgericht Frankfurt erreichte der Marrokaner eine Strafmilderung auf drei Monate Haft mit Bewährung. Danach legte sein Verteidiger Revision ein, um eine Grundsatzentscheidung vom OLG zu erlangen.

Die Frankfurter Drogen-Szene

Frankfurt gilt in Deutschland als eines der Zentren der Szene. Seit dort vor fast vier Jahren die Droge aus Amerika erstmals auftauchte, geht die Polizei mit harten Mitteln gegen die afrikanischen Dealer vor. Ihnen werden – notfalls zwangsweise – Brechmittel verabreicht, um verpackte und verschluckte Crack-Körnchen oder Kokain wieder ans Tageslicht zu fördern und als Beweise zu sichern. Diese umstrittene Praxis stand nun auf dem juristischen Prüfstand.

Den Richtern liegt der Fall vor, der die Brechmittel-Diskussion in Hessen im Frühjahr 1995 ins Rollen gebracht hatte. Würden die Mittel „nach den Regeln der ärztlichen Kunst“ verabreicht, sei ihr Einsatz zulässig, hatte ein Amtsrichter entschieden und einen marokkanischen Drogenhändler zu neun Monaten Haft verurteilt. Gegen einen späteren Freispruch in zweiter Instanz legte die Staatsanwaltschaft Revision vor dem OLG ein.

Dem 30jährigen Marokkaner war nach seiner Festnahme eine Spritze mit der Substanz „Apomorphin“ gesetzt worden, anschließend mußte er in notärztliche Behandlung. Für Hessens grünen Justizminister Rupert von Plottnitz war dies Anlaß, die seit 1994 übliche Praxis zu überprüfen. Generalstaatsanwalt Christoph Schaefer untersagte schließlich den zwangsweisen Gebrauch der Mittel. Im August 1995 machte Schaefer einen Rückzieher: Brechmittel seien „eine zulässige und unverzichtbare Maßnahme“ im Kampf gegen die Drogenhändler. Es könne nicht „einfach reaktionslos hingenommen werden“, daß sich Verdächtige der Strafverfolgung entzögen, meinte der Generalstaatsanwalt. „Apomorphin“-Spritzen sind zwar seitdem verboten. Eingesetzt wird aber unter ärztlicher Kontrolle ein Sirup auf Basis einer südamerikanischen Pflanze, der ähnlich wirkt.

Nach einer Statistik des hessischen Generalstaatsanwalts wurde zwischen August 1995 und Februar 1996 der Sirup 60 Dealern eingeflößt. „Die Mehrzahl ist jetzt freiwillig zum Ausscheiden bereit“, beschreibt die Sprecherin der Generalstaatsanwaltschaft, Hildegard Becker-Toussaint, die Reaktion der Szene. Die Zahl derjenigen, die die in Folie verpackten Kügelchen bei der Verhaftung verschluckten, um Beweismittel zu vernichten, sei zurückgegangen.

Die Szene hat sich nach Erkenntnissen der Polizei vor allem um den Frankfurter Hauptbahnhof etabliert. Etwa 150 Konsumenten „aus allen sozialen Schichten“ hat die Polizei ausgemacht. Rund 30 Crack- Kügelchen brauchen Süchtige nach Auskunft von Polizeisprecher Peter Öhm pro Tag. Die Portionen wiegen etwa 0,1 Gramm und kosten zwischen 30 und 50 Mark. Hessenweit registrierte das Landeskriminalamt im vergangenen Jahr 330 Crack-Fälle, davon 315 in Frankfurt. Einzelfälle gebe es auch in Kassel und Darmstadt.

„Wir schätzen die Lage als gefahrenträchtig ein und gehen mit gezielten Maßnahmen vor“, erläutert Frankfurts Polizeisprecher Öhm. Das Bundeskriminalamt schätzt die Situation anderes ein. „Crack ist im Moment nicht das Problem“, meint Sprecherin Elke Kluge und verweist auf die enormen Zuwachsraten der bei Jugendlichen beliebten Designer-Droge Ecstasy. Noch vor zwei Jahren hatte die Wiesbadener Behörde vor einem starken Anstieg der Konsumentenzahlen bei Crack gewarnt. Kluge untermauert die BKA-Überzeugung mit Zahlen: 1995 stellten Polizei und Zoll nur 253 Gramm Crack sicher, bei Kokain waren es 1,84 Tonnen.

Innenminister Bökel: Dann müssen wir das Gesetz ändern

Der hessische Innenminister Gerhard Bökel (SPD) bezeichnete das Urteil des Frankfurter Oberlandesgerichtes aus Sicht der Polizei als bedauerlich und praxisfern. „Wenn Polizeibeamte täglich in Fäkalien herumwühlen müssen, um Beweismittel zu sichern, stellt sich die Frage, ob hier die Menschenwürde gewahrt ist“, sagte Bökel.

Der Innenminister forderte die Bundesregierung auf, eine Gesetzesgrundlage zu schaffen, falls – wie vom OLG behaptet – eine rechtliche Basis für die Anwendung von Brechmitteln zur Beweissicherung tatsächlich fehle. In einem solchen Gesetz müsse dann aber kritisch hinterfragt werden, ob der Einsatz von Brechmitteln bei Drogenschmugglern wirklich unverhältnismäßig und ein Verstoß gegen die Menschenwürde sei.

dpa