■ Ökolumne
: Schrempps Vision Von Matthias Greffrath

Image kann hinderlich sein. Niemand hört hin, wenn der Mittelstürmer der Klassenmannschaft etwas im Deutschunterricht sagt. Manchmal ist das falsch. Schrempp zum Beispiel gilt als Rambo. Das ist griffig, das versteht jeder, und er tut einiges dafür. Aber es verhindert Bewegung, und vielleicht stimmt es ja gar nicht.

Auf dem „Gesellschaftspolitischen Forum der Banken“, das in dieser Woche im SED-Schlößchen Niederschönhausen stattfand, fragten allerlei Honoratioren unter Messingdecken, hinter Tüllgardinen und auf rotem Plüsch Fragen, die niemand mehr stellt, und gaben Antworten, die jeder schon kennt. Der Vortragsreisende Kissinger beschwor Asien und den Islam, der alte Europäer François-Poncet prognostizierte kühn, daß der Euro kommen, die Globalisierung Opfer kosten und das Parlament in Straßburg sich mehr Kompetenzen erkämpfen müsse, und der Publizist Broder beschwor zur Freude der Anwesenden das „miefige, trostlose, dumpfe“ Grauen im Osten und die immer noch virulente totalitäre Gefahr (Gysi!).

Auftritt also Jürgen Schrempp, gar nicht überlebensgroß, sondern quadratisch, praktisch, vor allen Dingen konkret unter all den Bedenklichen: Wir – Daimler also – montieren in Polen Transporter, die Teile kommen aus Stuttgart. Davon haben alle etwas. Wir – die deutsche Wirtschaft also – exportieren nach Osteuropa soviel wie nach Amerika. Osteuropa macht uns reicher, auch wirtschaftlich. Und dann stellte Schrempp unterkühlt etwas auf den Tisch, was kein Politiker mehr wagen würde und was in der Globalisierungspanik und DM-Verlust-Angst verlorenging: eine schöne, kleine Vision. Sie war nicht ganz neu, Delors und andere sind schon mit ihr gescheitert, Intellektuelle lieben sie, und sie macht ja auch Sinn. Laßt uns beschleunigen, was wir ohnehin tun müssen, sagte Schrempp, bauen wir a tempo die Infrastruktur für das neue, große Europa: die Autobahnen nach Kiew und Warschau, die Schnellbahnen für den Menschen und Güterverkehr zwischen Madrid und Moskau. Das schafft Aufträge für Jahrzehnte, das mobilisiert Arbeit, das verschränkt Abhängigkeit und schafft damit Sicherheit. Es macht Europa erfahrbar in vielfacher Weise, und damit bewegt es die Phantasie und vielleicht sogar Herzen.

„Wir“ heißt natürlich: Daimler und vor allem die Adtranz in Berlin, die Züge und Verkehrssysteme baut. Aber „wir“ kann auch heißen: Die Träger einer neuen Industriepolitik. Ein Bündnis für Wachstum, konkreter und weniger verlogen als die Intiative für Lohnsenkung und Mieterhöhung der Regierung. Ein großeuropäisches Zukunftsprojekt stand für ein paar Minuten in dem Saal mit dem kleinkarierten Teppich, konkreter als die komplizierte Währungsoperation. Etwas, das Ingenieure bewegen könnte, Gewerkschaften erfreuen und Stahlwerke vor dem Konkursverwalter bewahren. Ein Projekt, das ein wenig Zugluft in unsere Stagnations- und Bewahrungskoalition tragen würde. Die Zukunft wird teuer, sagte auch Schrempp, aber dann laßt uns wenigstens in etwas investieren, das Profit, Beschäftigung und gute Laune verspricht.

Man verändert Strukturen nicht, in dem man über neue Strukturen redet, sondern indem man Keile ins Offene treibt. Es kommt nicht nur darauf an, groß und stark zu sein, manchmal muß man schnell sein. So denken Militärs, so denken Unternehmer, und so sollten eigentlich auch Politiker denken. Und deshalb fügte der Daimler-Chef in seine Rede den Satz ein: „Reformnotwendigkeiten bestehen auf allen Ebenen, auch an der Spitze“ – in der Wirtschaft und in der Politik. Schrempp ließ zwischen den Zeilen, an wen er da alles gedacht hat; ein wenig populistisch fügte er hinzu: „Das sind wir den Menschen an den Bändern schuldig.“ Schrempps industriepolitische Vision – die im übrigen viel mehr mit dem klassischen europäischen Sozial- und Infrastrukturstaat zu tun hatte als all die Abschaffungsrhetorik der Globalisierungsgewinnler – schaffte in Niederschönhausen nicht den Weg bis zu den Fasanenbrüstchen, und er selbst jettete davon, kaum daß er geendet hatte. „Gerede“, murmelte einer der Banker. Aber manchmal kommt das Neue in der S-Klasse; und manchmal muß man jemanden beim Wort nehmen, um zu sehen, ob er es ernst meint. Wo sind die Partner für Gedanken wie den ICE/TGV Paris–Moskau im Vierstundentakt?