Kulturdynamik und Selbstinszenierung

Kulturalismus im postnationalen Zeitalter: Sich als Gruppe konstituieren und Gehör verschaffen  ■ Von Werner Schiffauer

Im Europa des ausgehenden 20. Jahrhunderts hat der Begriff der „Kultur“ den der „Klasse“ und „Sozialstruktur“ als Orientierungs- und Leitbegriff ersetzt. Ethnische, religiöse, nationalistische, regionalistische Bewegungen haben offenbar Konjunktur, während die Arbeiterbewegung perspektivlos vor sich hindümpelt. Kulturwissenschaftliche Institute entstehen allerorten, während die Sozialwissenschaften in Agonie liegen. Kultur wird in den unterschiedlichsten Zusammenhängen beschworen – formalen: Unternehmen, Bürokratien, Laboren und informalen: Jugendkulturen, Lebensstilen. Kultur spielt schließlich eine zentrale Rolle in populären Zukunftsvisionen, die entweder einen „Clash of civilisations“ (Huntingdon) prognostizieren oder die Konfrontation von McWorld und Dschihad beschwören (Barber).

An kritischen Einschätzungen dieser Entwicklung fehlt es nicht – gerade auch aus meiner Disziplin, der Ethnologie. Als besonders problematisch gilt dabei insbesondere die Beschwörung von ethnischer, nationalistischer und religiöser „Identität“ zu einem Zeitpunkt, zu dem sich „faktische“ Andersheit zu bloßen Konsumstilen nivelliert, und schließt daraus, daß der kulturalistische Diskurs nicht sinnvoll ist. Insbesondere werden drei Aspekte genannt:

1. Der Diskurs der Kultur lenkt von den eigentlichen Problemen ab: Anstatt über Probleme der Armut, der Ausgrenzung zu reden, wird über Kultur geredet – und damit vom Wesentlichen abgesehen. Was eigentlich in der Sprache von Ökonomie und Sozialstruktur erörtert werden müßte, wird in der Terminologie der Kultur verhandelt (Pohrt, Finkielkraut).

2. Der Diskurs der Kultur dient der Grenzziehung. Durch den Diskurs der Kultur werden andere ausgegrenzt und abgewertet: Diese Grenzziehungen sind insbesondere zu einem Zeitpunkt wichtig, in dem Verteilungskämpfe an Intensität zunehmen (Stolcke, Abu Lughod).

3. Der Diskurs der Kultur dient den Partikularinteressen in einer Gesellschaft, die zunehmend zwischen Insidern und Ausgegrenzten unterscheidet, die also die Struktur einer Zweidrittelgesellschaft (oder Vierfünftelgesellschaft) annimmt. In diesem Kontext ist die Berufung auf Kultur eine Ressource zur Mobilisierung der Ausgeschlossenen (Bude, Enzensberg, Dubet/Lapeyronnie).

Ich möchte eine These vorschlagen, die die Perspektive der Akteure ernst nimmt. Der Kulturalismus scheint mir eine der Formen zu sein, in der im ausgehenden 20. Jahrhundert Zivilgesellschaft neu gedacht und verhandelt wird. Das Problem, auf das der Diskurs antwortet, ist, daß der bisherige Rahmen, in dem zivilgesellschaftliche Prozesse organisiert waren – nämlich der Nationalstaat – in eine Krise geraten ist.

Das Problem, das sich der Zivilgesellschaft in der postnationalen Ordnung stellt, ist das der Solidarität. Die Zivilgesellschaft ist die Gesellschaftsform, die auf der Idee des Individuums im freien Austausch beruht – und zwar in ökonomischer, sozialer, politischer und kultureller Hinsicht: Ökonomisch basiert sie auf dem Prinzip des freien und rationalen Tausches von Waren (einschließlich der Ware Arbeitskraft); politisch auf den Institutionen der Öffentlichkeit, in denen sich im freien Austausch von Überzeugungen die volonté générale bildet und man sich auf ein bien commun verständigt; sozial basiert die Stellung des einzelnen nicht auf Stand oder Kaste, sondern auf Klasse, und kulturell schließlich sind die normativen Grundlagen nicht transzendental legitimiert, sondern werden in Akten des Austauschprozesses immer wieder neu ausgehandelt. Diese Form der Gesellschaft ist bemerkenswert effizient, weil sie rationale Lösungen für Handlungsprobleme favorisiert, sie hat jedoch auch ihre spezifischen Probleme. Die wichtigste Frage ist wohl: Was hält eigentlich eine Gesellschaft, die auf freiem (und damit freiwilligem) Tausch basiert, zusammen? Was verbürgt ihren Zusammenhalt? Was hält eigentlich Gruppen davon ab, sich von ihr zu verabschieden, wenn sie sich einen Vorteil versprechen (sich also etwa in Festungsstädte für wohlhabende zurückzuziehen oder wohlstandschauvinistisch für Sezession zu plädieren, wie etwa die Lega Lombarda)? Dieses Problem stellt sich insbesondere, als eine Gesellschaft, die auf dem freien Tausch beruht, erhebliche zentrifugale Kräfte entwickelt: Eine Gesellschaft, die auf freiem Tausch beruht, produziert ständig Ungleichheit – diese Ungleichheit darf jedoch ein bestimmtes Maß nicht überschreiten, wenn nicht die Basis der Gesellschaft selbst in Frage gestellt werden soll. Historisch wurde dies u.a. mit der Entwicklung der Wohlfahrtsrechte gelöst, die indes die Bereitschaft zu distributiver Gerechtigkeit abverlangen (die Bereitschaft etwa, progressive Besteuerung hinzunehmen, damit Ausgleichszahlungen, die im Sinne des Gemeinwohls nötig sind, geleistet werden können). Politisch stellt sich ein korrespondierendes Problem vor allem bei Entscheidungen, deren Kosten (oder Profite) sehr ungleich verteilt sind (wie es u.a. bei der Errichtung von Müllverbrennungsanlagen und Großflughäfen der Fall ist): Dies verlangt die Bereitschaft ab, formal korrekt getroffene Entscheidungen auch dann mitzutragen, wenn man das Gefühl hat, daß sie nur einer kleinen Gruppe zugute kommen oder daß eine Mehrheit über eine Minderheit verfügt. Historisch führte dies zu der Ausbildung eines elaborierten Minderheitenschutzes und Ausgleichsmaßnahmen.

Der Rahmen, in dem diese Probleme ausgehandelt wurden, war der Nationalstaat. Dieser steht für das Programm, daß die politische und die kulturelle Einheit deckungsgleich sein sollte: Ein „Volk“ bzw. eine „Nation“ sollte das prinzipielle Recht haben, sich in einem Staat zu organisieren (Gellner) – wobei zu beachten ist, daß die Deckungsgleichheit in der Regel mit erheblicher Gewalt hergestellt wurde. Mit dieser Figur war die Solidaritätsforderung gesetzt: Nationen waren Schicksals- oder Verantwortungsgemeinschaften. Der Nationalstaat begrenzte das freie Spiel des Marktes, indem er bestimmte Spieler zuließ und andere ausschloß; im Rahmen des Nationalstaates wurden die Regeln festgesetzt und überwacht, an die sich die Spieler hielten; innerhalb dieses Rahmens wurde schließlich das Ausmaß an Ungleichheit begrenzt, das sich aus einem freien Spiel der Kräfte immer wieder ergab. Es war vor allem die „Globalisierung“ – die Deregulierung der Märkte –, die diesen Rahmen im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts erodieren ließ. Die Änderungen, die damit verbunden sind, artikulieren sich in vier Erzählungen. Ich wähle den Begriff „Erzählung“, weil wir nicht positiv wissen, was wirklich vor sich geht – wir machen uns ein Bild, eine Einschätzung von den Entwicklungen, kurz: Wir schreiben Szenarien, um Orientierung in einer unübersichtlichen Welt zu gewinnen. Diese Erzählungen artikulieren auf die eine oder andere Weise, daß der Nationalstaat nicht mehr in der Lage ist, das Spiel des freien Tausches zu regulieren und damit den Zusammenhalt einer auf freien Tausch basierenden Gesellschaft zu garantieren.

An erster Stelle ist das Narrativ der Zweidrittelgesellschaft zu nennen: Das Narrativ besagt zum einen, daß sich die postindustrielle Ordnung auf eine dauerhaft hohe Arbeitslosenrate einstellen muß, zum anderen, daß die Arbeitslosigkeit einen neuen Charakter annimmt. Die Arbeitslosen stellen in der postindustriellen Welt nicht mehr eine industrielle Reservearmee, die als Waffe gegen die organisierte Arbeiterschaft verwendet und auf die in Zeiten von Hochkonjunktur zurückgegriffen werden kann, sondern sie konstitutieren schlicht eine Gruppe von Überflüssigen: Eine von Sozialhilfe abhängige Population, die keiner mehr braucht. Das zentrale Problem ist nicht mehr das der Ausbeutung, sondern das der Ausgrenzung. Da diese Spaltung mit großer Wahrscheinlichkeit ethnisch markiert sein wird, ist eine neue Kastenordnung im Entstehen und zu befürchten, daß das Versprechen der Gleichheit innerhalb des Nationalstaats nicht mehr aufrechtzuerhalten ist. Dies wird noch durch eine zweite Erzählung unterstrichen – der Erzählung vom Ende des Fortschritts. Dieses Narrativ besagt, daß zwar weiterhin rapider ökonomischer Wandel und technologische Entwicklung stattfinden werden – daß diese aber nicht mehr zum „Fortschritt“ im emphatischen Sinn beitragen werden, also zur Realisierung einer besseren Gesellschaft. Anders als in den sechziger Jahren wird Wachstum nicht mehr zur sozialen Integration beitragen, sondern im Kontext die Zweidrittelgeselgrenzung in Gang setzen.

Die dritte Erzählung besagt, daß im Zeichen des globalen Wettbewerbs der Sozialstaat nicht mehr bezahlbar ist. Damit wird die Angst artikuliert, daß die in den europäischen Nationalstaaten nach dem Zweiten Weltkrieg ausgehandelten contrats sociaux nicht mehr garantiert werden können. Zur Herstellung von Gleichheit schien es nicht mehr ausreichend, nur die sozialen Wohlfahrtsrechte zu garantieren, sondern der Staat war aufgefordert, durch kompensatorische Maßnahmen aktiv auf eine Herstellung von Gleichheit hinzuwirken. Dabei darf nicht übersehen werden, daß die kompensatorische Politik wesentlich auch eine Folge des Kalten Kriegs gewesen war. Die kapitalistische Welt stand vor der Herausforderung, eine Antwort auf den Kommunismus zu finden – der Sozialstaat konnte darüber legitimiert werden. Seit 1989 ist an die Stelle des Kalten Kriegs der globale Wettbewerb getreten – an die Stelle einer allumfassenden Systemkonkurrenz ein eindimensionaler – rein ökonomischer – Wettbewerb. Aufgrund dieser Entwicklung müssen sich nun alle zivilgesellschaftlichen Standards aus sich heraus rechtfertigen. Das Narrativ artikuliert die Angst, daß die Nationalstaaten nicht mehr in der Lage sind, über Maßnahmen der distributiven Gerechtigkeit steuernd auf das Problem von Gleichheit oder Ungleichheit einzuwirken.

Das vierte Narrativ ist schließlich das der multikulturellen Gesellschaft. Dieses Narrativ besagt nichts anderes als das Überholtsein der Nation als Schicksals- oder Verantwortungsgemeinschaft (und wird deshalb auch von der Rechten so angegriffen). Die Erzählung trägt zwei Prozessen Rechnung – der europäischen Einigung und der Massenimmigration nach Europa. Beide Prozesse lösen die herkömmliche nationalstaatliche Gleichung von Volk und Staat auf. Die Solidarität in der Zivilgesellschaft kann nicht mehr ausschließlich auf gemeinsame Sprache, kulturelle Traditionen und Ansichten begründet werden. Das Problem ist, daß der multikulturalistische Diskurs einstweilen so bläßlich ist – und zwar deshalb, weil er zwar die Tatsache zur Kenntnis nimmt, aber nicht in eigentlichem Sinn Rechnung trägt, d.h. die konstitutionellen Konsequenzen daraus zieht.

Kurz: Die vier Erzählungen drücken aus, daß die Welt aus den Fugen geraten ist. Die Institution, die den freien Tausch reguliert und kontrolliert hat – der Nationalstaat–, ist in einer elementaren Krise. Das Gefühl stellt sich ein, daß im Zeichen der Globalisierung die ungebändigten Kräfte des freien Austausches freigesetzt wurden und zunehmend Zweifel artikuliert werden, ob sie sich noch beherrschen lassen. Das Ende der Nationalstaaten geht einher mit dem Ende der governability.

Es gibt nun zwei Diskurse, die diesem neuen Kontext Rechnung tragen: Der Diskurs des Neoliberalismus versucht, die Gesellschaft konsequent vom Individuum her zu verstehen und ist dem Bild des interessegeleiteten, rational handelnden Akteurs verpflichtet. Der Diskurs des Kulturalismus hält im Gegensatz dazu an kollektiven Akteuren fest: Die einzelnen sprechen nicht nur für sich, sonder für wie auch immer geartete Gemeinschaften – für die Ossis, für die Deutschen, für die Europäer, die Kurden, die Muslime... Freilich erlebt in diesem neuen Kontext der Begriff der Kultur eine Bedeutungsverschiebung.

Die wichtigste Verschiebung zum herkömmlichen Begriff der Kultur läßt sich auf den Begriff der Inszenierung bringen. Der neuen Hinwendung zu Kultur mutet etwas Theatralisches an – eine Tradition wird in Szene gesetzt und damit auf eine neue Weise neu konstruiert. Man markiert für andere und damit auch für sich selbst, daß man hier ist, eine Rolle spielt. Einige kleine Beispiele: Die von Hermann Tertilt untersuchten „Türkish Power Boys“ artikulieren Ethnizität, aber mit einem Namen, der sich gerade an die deutsche Umgebung wendet (als Selbstbezeichnung wird gerade kein türkisches Wort gewählt) und der zudem den zur Zeit der Gruppe gerade laufenden Film „Boyz 'n the hood“ zitiert. In dem Prozeß, den die vom Braunkohlabbau gefährdete Gemeinde Horno führte, tauchten im Gerichtssaal sorbische Trachten auf, die im Alltag keine Rolle spielten (und die man zu einer Zeit, wo sie im Alltag getragen wurden, wohl in den Schrank gepackt hätte, wenn man in die Stadt gefahren wäre) und unterstrichen damit ein ethnisches Argument (Zerstörung des sorbischen Siedlungsgebiets). In diesem Akt wird Kultur repräsentiert – man zeigt sie nach außen und vergegenwärtigt sich darüber selbst, mehr noch: Man entdeckt sie für sich selbst.

In dem Akt der Darstellung schwingt mit, daß man zu dem wird, als der man sich repräsentiert. Offenbar geschieht dies auf zwei grundlegend verschiedene Weisen: Es gibt Gruppen, die sich als „authentisch“ repräsentieren: ethnische, religiöse, regionalistische, nationalistische Gruppen, die sich einem Erbe verpflichtet fühlen und dieses bewahren wollen. Und es gibt Gruppen, die sich als „different“ repräsentieren: Jugendkulturen, Lifestyle-Kulturen (Yuppies). Die Unterschiede scheinen mir jedoch ziemlich oberflächlich zu sein – und schon gar nicht lassen sich diese Haltungen mit Wertungen verbinden (in der Ethnologie ist im Augenglick ein Lieblingsspiel, Gruppen, die sich sich ihrem „Erbe“, ihren roots, verpflichtet fühlen, eines essentialistischen Kulturbegriffs zu überführen). Wenn man genauer hinsieht, werden die Haltungen nämlich immer kombiniert: Skins etwa inszenieren sich als different – indem sie eine transnationale Mode übernehmen – und kombinieren dies mit essentialistischen kulturalistischem Pathos (der durch die Inszenierung selbst in Frage gestellt wird). Eine Gruppe von Islamisten, die ich näher untersucht habe, inszeniert dagegen Authentizität (indem etwa „traditionale islamische Kleidung“ getragen wird), setzt dies aber in politischen Aktionsformen ein, die denkbar „westlich“ sind (Demonstrationen etwa): Hier bekommt Authentizität die Rolle eines Zeichens, einees Bildes, mit dem sich in Kürze etwas kommunizieren läßt. In einem solchen Kontext erinnert das Spiel mit der Authentizität an gewisse Strategien der Werbeindustrie. Sowohl „authentische“ wie „innovative“ Kulturen werden inszeniert und über die Inszenierung konstruiert.

Inszenierung drängt auf Anerkennung – und zwar als Anerkennung des Rechts auf Differenz (Taylor 1992). Das von vielen geäußerte Unbehagen am kulturalistischen Diskurs hebt gerade darauf ab: Besteht nicht gerade die Gefahr des Auseinanderfallens der Zivilgesellschaft dann, wenn jeder kommt und besondere Rechte reklamiert? Mir scheint, daß der Sachverhalt komplexer ist, und zwar deshalb, weil sich über die Suche nach Anerkennung ein komplexer Zwischenraum entfaltet. Alexander Düttmann (1997) hat die komplexe Struktur dieses Raums analysiert. Ein erstes Paradox besteht zwischen Differenz und Gleichheit: Da man Anerkennung nur für etwas bekommt, was den Maßstäben des anderen entspricht, impliziert die Suche nach Anerkennung auch, daß man sich immer bis zu einem gewissen Grad selbst aufgibt. Das andere Paradox ist das zwischen Ungleichheit und Gleichheit: Wenn jemand von dem anderen Anerkennung erheischt, ordnet er sich ihm notwendigerweise unter: In dem Moment, in dem er Anerkennung als Gleicher erhält, wird auf hinterhältige Weise Ungleichheit wieder eingeführt. All dies führt dazu, daß man Anerkennung meist aus den falschen Gründen und von den Falschen erhält. Die Forderung nach Anerkennung kann prinzipiell nicht eingelöst werden, so daß sie sich immer wieder erneut erhebt. Gerade darüber aber wird eine dynamische Struktur des Sichaufeinanderbeziehens und des immer wieder erneut Aufeinanderbeziehens gestiftet: Der Zerfall in viele Welten ist also nicht notwendige Folge des Kulturalismus – genauso wahrscheinlich ist die Entstehung einer neuen Mitte, einer Mitte freilich, die sehr fluide ist: In diesem neuen Zwischenraum gibt es keine stabile Regeln, nach denen Anerkennung gewährt wird, mehr – sondern die Regeln selbst verschieben sich von Anerkennungsfall zu Anerkennungsfall.

Die Betonung des konstruktivistischen Charakters von Kultur besagt, daß Kultur nicht etwas ausdrückt, sondern etwas zuwege bringt. Der neue Kulturalismus läßt sich deshalb nicht auf „Gesellschaft“ zurückführen – auf Klasse oder auf Habitus (eine Denk-, Handlungs- und Wahrnehmungspraxis). Die Kritik am neuen Kulturalismus, er inszeniere Differenz zu einem Zeitpunkt, wo die faktischen Unterschiede am Verschwinden sind, trifft deswegen nicht die Sache. Im Gegenteil: Dies scheint mir gerade der Punkt, und zwar deshalb, weil nicht Gruppen sich in ihrer Kultur ausdrücken, sondern weil „Kultur“ Gruppen konstitutiert – und dies, indem Differenz inszeniert wird. Dabei ist der besondere Witz, daß der kulturalistische Diskurs mit Unbestimmtheit und Vagheit spielt. Er lebt von dem Paradox, zu definieren, ohne Grenzen – fines – zu ziehen. Wer sich als Europäer, als Ossi, als Sorbe darstellt, kümmert sich in der Regel nicht um Grenzziehungen und Eindeutigkeiten. Das Anliegen ist vielmehr ein Appell an:

1. Solidarität (Personen, die sich einer gleichen Kultur zuordnen – ob nun in ethnischer, religiöser, beruflicher Hinsicht, stellen damit eine Gemeinsamkeit her);

2. Kommunikation (Personen, die eine gemeinsame Kultur hergestellt haben, können sich auf Gemeinsamkeiten beziehen und sich damit verständlich machen) und

3. Anerkennung (Personen, die sich auf eine gemeinsame Kultur berufen, wünschen, daß dieser Aspekt ihres Selbstverständnisses durch die weitere Gesellschaft anerkannt wird). Da Anerkennung aber in letzter Instanz immer auch auf rechtliche Anerkennung hinausläuft, stehen kulturalistische Bewegungen vor dem Paradox, in der Suche nach Anerkennung sich irgendwann definieren und dadurch selbst aufgeben zu müssen.

Nun erhebt sich sicherlich der Vorwurf, daß ich mir die Welt verharmlosend als eine postmoderne Spielwiese vorstelle: Man müsse doch sehen, daß ethnizistische und fundamentalistische Bewegungen ein erhebliches Gewaltpotential bergen. Ich würde dies sofort bejahen, aber einwenden, daß dies eine andere Frage ist: Es gibt sehr gewalttätige Inszenierungen von Kultur (etwa den Kulturalismus der PKK), und es gibt relativ gewaltfreie Inszenierungen. Es ist eine wichtige Forschungsfrage, welche Gruppen zu Gewalt tendieren und welche nicht. Wichtig scheint mir das Problem der Sichtbarkeit zu sein: Eines der zentralen Probleme des Lebens in einer aus den Fugen geratenen Welt ist das Problem, überhaupt wahrgenommen zu werden, „wer“ zu sein. Dieses Problem stellt sich besonders in einer Welt, in der Ausgrenzungsängste herrschen. Das Problem sichtbar zu sein und sichtbar zu werden, ist jedem wohl aus seiner Jugend vertraut.

In dem ersten Kapital von Ralph Ellisons Roman „Unsichtbar“ wird der Umschlag des Leidens an der Unsichtbarkeit in Gewalt auf eine beklemmende Wiese deutlich. Sie resultiert aus dem Bedürfnis, in der Welt eine Spur zu hinterlassen.

Die Krise der nationalstaatlichen Ordnung stellt die Zivilgesellschaft vor erhebliche Herausforderungen. Um den Umbau zu bewältigen, hilft es nichts, die gegenwärtig sich formierenden Kräfte mit den Maßstäben von gestern zu messen. Es gilt, sie auch sich heraus zu verstehen und sie nach ihrem Potential und ihren Risiken auszuloten. Dies gilt auch und besonders für den Kulturalismus.