Degradierungsrituale

Ikonographie einer Festnahme: Das Foto des verhafteten Öcalan spiegelt die Kurdenpolitik der Türkei. Über gebrochene Körper und die Souveränität des Volkes  ■ Von Werner Schiffauer

Am Freitag, den 19.Februar erschien auf der Titelseite der taz ein Bild von Öcalan mit verbundenen Augen und gefesselten Händen vor türkischen Fahnen. Das Bild wurde auf der Gefängnisinsel Imral im Marmarameer aufgenommen. Dieses „Dokument des Triumphes“ (Bildunterschrift) ist nur eines aus einer Serie von Fotos, die die Erniedrigung Öcalans zur Schau stellen. Stellte sich schon bei den Bildern, die den Transport Öcalans von Kenia in die Türkei zeigten, die Frage, warum einem gefesselten Mann die Augen verbunden werden mußten, so stellt sich diese Frage angesichts der Vorführung in einem Hochsicherheitsgefängnis noch einmal besonders nachdrücklich. Und sind die Handschellen wirklich in einer Situation nötig, in der eine Fluchtgefahr ausgeschlossen ist?

All dies mit „Schikane“ zu erklären, reicht nicht aus. Schikane geschieht heimlich. In der Regel wird alles darangesetzt, sie nicht nach außen dringen zu lassen. Hier aber erfolgt die Erniedrigung in aller Öffentlichkeit. Offenbar dienen die Augenbinde und die Handschellen weniger der Folter als einer besonderen Inszenierung: Ein bestimmtes Bild soll sich der Öffentlichkeit einprägen und die Erinnerung an Öcalan bestimmen.

Dieser Eindruck verdichtet sich, wenn man das Foto mit demjenigen vergleicht, das von Öcalan während einer Pressekonferenz im September 1993 entstanden ist. Das Foto von 1999 bezieht sich in allen Einzelheiten auf dieses frühere Bild. Stellte sich Öcalan 1993 vor den Emblemen des zu errichtenden kurdischen Staats zur Schau, so wird er 1999 vor den Emblemen der Türkischen Republik zur Schau gestellt; ballte er 1993 in einer Geste männlicher Stärke und Selbstvertrauens die Faust, so zwingen ihn die Handschellen 1999 zu einer klassischen Demutshaltung. Und schlug er 1993 mit seinen Augen die Betrachter in Bann, so ist er 1999 gleichsam geblendet den Blicken der Betrachter ausgesetzt. Die Rolle von Augenbinde und Handschellen wird nun deutlich. Sie sollen Öcalan daran hindern, eine selbstbewußte Haltung wie auf dem Foto von 1993 einzunehmen.

Es gilt also, die Logik des Bildes von 1993 zu entschlüsseln, um einen Zugang zum heutigen Spektakel zu gewinnen. Ein derartiges Bild operiert auf zwei Ebenen. Auf der primären Ebene hat man ein „Foto“ – eine Momentaufnahme, die eine Bewegung Öcalans zu einem genau datierbaren Zeitpunkt einfängt. Ein Foto birgt die ganze Zufälligkeit des Belichtungsmoments. Man kann dem Bild beispielsweise nicht entnehmen, in welchem Zusammenhang Öcalan die Faust ballt – handelt es sich um eine zufällige Geste, die er schon im nächsten Moment wieder aufgeben wird, oder um eine kalkulierte Inszenierung, die er bewußt einsetzt und durchhält?

Die Gesten des Herrschers

Auf der sekundären Ebene hat man jedoch ein „Bild“. Aus einer Vielzahl von möglichen Fotos ist genau dieses von der Pressestelle ausgesucht und verteilt worden, weil es etwas „besagt“. Auf dieser Ebene tritt das zufällige Moment zurück (und wenn es doch noch vorhanden sein sollte, wirkt es wie eine Fehlleistung) – hier hat alles eine Bedeutung. Die Aussage, die die Pressestelle der PKK mit der Herausgabe gerade dieses Fotos bezweckt hat, läßt sich unschwer entziffern: Öcalan ist der Repräsentant des kurdischen Volkes; er spricht, nein: fordert oder erklärt, im Namen des Volkes.

Die herrische Gestik zeigt: Hier spricht ein Mächtiger, der weiß, was er tut. Das ist nicht jemand, der Beschlüsse irgendwelcher Gremien entgegennimmt und sie loyal umsetzt – sondern jemand, der den Willen des Volkes formt. Und der Wille besagt: Wir nehmen unser Schicksal in die eigene Hand; wir lassen uns nichts bieten, wir sind souverän.

In diesem Bild liegt das ganze Paradox der Konstitution politischer Herrschaft. Der Redner hat seine Macht als Repräsentant des Volkes, er erhält sie also vom Volk. Einerseits. Andererseits aber würde dieses Volk über gar keinen Willen verfügen, wenn es sich nicht im Repräsentanten wiedererkennen könnte; ja, es hätte noch nicht einmal ein Bild von sich selbst. Es konstituiert sich und seine Identität erst in diesem zirkulären Akt der Repräsentation, einem Akt politischer Magie (Bourdieu). Das Bild besagt also ebenso: „Ich vertrete ,das Volk‘“ wie „Ich bin ,das Volk‘“.

Tatsächlich steht das Bild für das ganze Programm der PKK, als Repräsentant des kurdischen Volkes aufzutreten. Aber kann man überhaupt von einem Volk sprechen? Ja, insofern die Kurden sich selbst als solches wahrnehmen. Nein, wenn man die Fraktionierungen betrachtet. Die 24 Millionen Kurden leben in sechs Ländern, sprechen drei Sprachen, gehören unterschiedlichen religiösen Gemeinschaften an (Aleviten, Sunniten, Yeziden); pflegen tribale Bindungen und Clansolidaritäten. Jede dieser einzelnen Bindungen stiftet Loyalitäten, die im Einzelfall die Loyalität dem „kurdischen Volk“ gegenüber zurücktreten läßt. Es ist beispielsweise kein Zufall, daß es in all den Jahren noch zu keiner länderübergreifenden kurdischen Bewegung gekommen ist. Angesichts dieser Situation ist schwer zu sehen, was – einmal von der Selbstbezeichnung abgesehen – kurdische „Identität“ ausmachen könnte. Die nationalistischen kurdischen Bewegungen, die in den siebziger Jahren in Türkisch-Kurdistan aufblühten, spiegelten die ganze Vielfältigkeit und Heterogenität der Situation wieder. Allein in der Türkei existierten damals mehr als zwanzig Gruppen mit unterschiedlichen Vorstellungen über Kurdistan wie auch Konzepten über nationale Befreiung.

Gewalt ausüben, Identität stiften

Nach der Zäsur durch den Militärputsch von 1980 trat 1984 zum ersten Mal die PKK auf – und zwar durch einen Überfall auf die türkischen Militärposten in Eruh und Emdinli, der 32 Todesopfer kostete. Die Linke war damals skeptisch – die ersten Aktionen der PKK (Überfälle auf Militärposten) wurden als „Abenteurertum“ und „Aktionismus“ abgetan. Tatsächlich unterschätzten sie die Wirkung der militanten Aktionen. Sie übersahen, daß Öcalan mit diesem Zug den bis dahin geltenden Zusammenhang von Diskurs und Macht auf den Kopf stellte. Nicht wer repräsentiert (also eine überzeugende Formulierung der kurdischen Politik findet), übt Macht aus, sondern wer Macht ausübt, und zwar in Form von direkter Gewalt, repräsentiert.

Der PKK gelang es durch die Entfesselung eines Bürgerkriegs, der bis heute 32.000 Menschenleben fordern sollte, die Definitionsmacht an sich zu reißen. Sie bestimmte nun, wer als Freund und Feind zu betrachten, was als Innen und Außen zu definieren war. Wer mit dem Feind, der Türkischen Republik, paktierte, war ein Verräter und sollte mit dem Tod bestraft werden. Dabei bedeutet militärische Gewalt, sich außerhalb der geltenden Gesetze, den Gesetzen der Türkischen Republik, zu stellen, was nichts anderes heißt, als das Recht auf das eigene Gesetz zu reklamieren. Damit wurde Souveränität beansprucht – nämlich Staatlichkeit, Unabhängigkeit und Selbstbestimmung. Indem es Öcalan schaffte, im Namen eines Volkes Krieg zu erklären, konstituierte er in und durch diesen Akt einen Souverän, eine politische Einheit und einen Staat. Und er usurpierte in diesem Akt das Recht, über Leben und Tod zu entscheiden. Dabei gewann der Märtyrerkult eine besondere Rolle für die Plausibilisierung dieser Anmaßung. Durch die Verehrung der im Kampf um Unabhängigkeit gefallenen Freischärler sollte eine Gemeinschaft von Lebenden und Toten konstituiert werden, in der die bisherigen Fraktionierungen der kurdischen Existenz aufgehoben waren.

All dies klingt in dem Foto von 1993 an: Öcalan ist auf ihm die Personifikation des Kampfes der PKK. Doch die Wirkung des Bildes beruht auf der Rückbindung des „mythischen“ Öcalan, des Souveräns, an den „realen“, „historischen“ Öcalan. Das Foto als Momentaufnahme ist das Medium der Beglaubigung per se. Es ist ein „wirklicher“ Körper, der hier gezeigt wird. Ein Körper mit Falten, Doppelkinn, Körperbehaarung – ein Körper, der allen menschlichen Prozessen des Stoffwechsels und des Verfalls ausgesetzt ist. Das Bild wirkt, gerade weil es auf zwei Ebenen operiert: Dadurch wird das Programm, für das der mythische Öcalan steht, durch den realen Öcalan beglaubigt.

Ein kleiner Ausflug in die politische Ideengeschichte kann dies erhellen. In der Polarität von „mythischem“ und „realem“ Öcalan tritt uns das bekannte Problem der zwei Körper des Königs in neuer Gestalt entgegen. Ernst Kantorowicz hat seine zentrale Rolle für die politische Theologie des Mittelalters und der Frühen Neuzeit analysiert. Die mittelalterlichen Juristen standen vor dem Problem, die besondere Natur einer sich erst allmählich herausbildenden und deshalb noch wenig faßbaren Staatlichkeit zu denken. Einerseits war die Staatlichkeit untrennbar an den realen König geknüpft; sein Tod gefährdete jedesmal den Zusammenhalt des Reiches. Andererseits lösten sich die staatlichen Institutionen allmählich von der Bindung an die Person und begannen ein Eigenleben zu führen.

Die Juristen lösten den Konflikt mit dem Konstrukt der Doppelnatur des Königs: Der König habe einerseits einen menschlichen, sterblichen Körper und andererseits einen politischen, unsterblichen Körper, der seinen leiblichen Tod überdauert.

Im 17. Jahrhundert war dann die Lösung der beiden Körper voneinander soweit vorangeschritten, daß man im Namen des unsterblichen Körpers des Königs gegen den faktischen König Krieg führen konnte. Seine eigentliche Wirkung entfaltete dann dieses Konzept, mit dem das Gemeinwesen als sozialer Körper gefaßt wurde, vor allem im 19. Jahrhundert.

Damals wurde die Idee des mystischen Körpers auf das „Volk“ übertragen. Völker bekamen damit eine „Identität“, einen „Charakter“, ein zeitenüberdauerndes Wesen.

Junge Nationalbewegungen stehen vor einem ähnlichen Problem wie die mittelalterlichen Juristen. Sie treten für eine sich in Umrissen abzeichnenden Idee, nämlich den souveränen Nationalstaat, ein – eine Idee, die einerseits eigenständig ist, aber noch nicht selbstverständlich genug, um von ihren Repräsentanten abgelöst werden zu können. Wie in der mittelalterlichen politischen Theologie bedarf der mythische Körper noch der Stützung des realen Körpers. Aus dieser Verbindung des Programmatischen und des Körperlichen erwächst der Personenkult. In dem Bild von Öcalan soll das kurdische Volk sich selbst sehen; in der Verehrung dieses Bildes sich selbst verehren.

Damit erschließt sich nun die Logik der Bilder von 1999. Einerseits handelt es sich um Degradierungsrituale. Öcalan wird seines mythischen Körpers beraubt. Man nimmt ihm Mimik und Gestik und zwingt ihn so in bloße Passivität. Diese Gestalt hat nichts mehr von dem politischen Körper eines Souveräns. Was bleibt, ist die unbedeutende Physis eines armseligen Menschen, eine Physis, der jede Metaphysik fehlt, hinfällig in jeder Hinsicht. Mit der Reduktion Öcalans auf den physischen Körper verbindet sich offenbar die Hoffnung, auch den politischen Körper zu zerstören, der durch ihn in dem paradoxen Akt der Selbstkonstituierung ins Leben gerufen wurde – nämlich die Idee der Souveränität des kurdischen Volkes. Es wirkt gerade so, als solle durch die Destruktion eines Götzenbildes ein Kult zerschlagen werden. Für dieses Ansinnen wäre ein Foto des zwar gefangenen, aber in Gestik und Mimik ungebrochenen Öcalan äußerst riskant, denn es könnte als Symbol des unterjochten, aber ungebrochenenen kurdischen Volkes gelesen werden.

Noch ist offen, wie der Krieg der Bilder ausgehen wird. Es könnte sein, daß die Idee eines souveränen Kurdistan so wenig gefestigt ist, daß mit der Destruktion des Körpers von Öcalan auch der Kult verschwindet. Möglich wäre aber auch, daß sich die Idee des kurdischen Volkes in den letzten Jahren weitgehend verfestigt hat. Dann könnte Öcalan als Märtyrer einer sich von seiner Person lösenden Idee in die Geschichte eingehen. Darauf deutet die Tatsache der Angst, die auch aus den türkischen Bildern spricht.

Hinter diesen Bildern steht das Drama des Sturzes eines Mächtigen – ein Drama von shakespeareschen Ausmaßen. Tatsächlich hat der große Dramatiker mit Richard II. eine Tragödie der Dissoziation der beiden Körper des Königs geschrieben. Vor allem aber sind auch in diesem Fall, ganz wie bei Shakespeare, alle Figuren Schurken. Es fällt schwer, für den Volkstribun Öcalan Sympathie zu empfinden. Aber dies gilt nicht minder für die andere Seite. Ist es Zufall, daß die Mitarbeiter des türkischen Geheimdienstes unter Tarnmasken ihren Triumph feiern – also in einem Habitus, der bis vor kurzem noch Terroristen vorbehalten war?

W. Schiffauer ist Professor für Vergleichende Kultur- und Sozialanthropologie an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)