■ Durch eine Nullrunde würden etwa 200.000 Arbeitsplätze entstehen. Bei vier Millionen Arbeitslosen ist das nicht ermutigend
: Milchmädchenrechnungen

Eine heilige Kuh der deutschen Wirtschaftspolitik gerät zusehends unter Druck: die grundgesetzlich verankerte Tarifautonomie. Gewerkschaften und Arbeitgeber bestimmen weitgehend die Einsatzbedingungen des Faktors Arbeit und damit das Niveau der Beschäftigung, ohne – so wird häufig argumentiert – die gesellschaftlichen Konsequenzen aus damit verbundener Arbeitslosigkeit angemessen zu beachten. Die Folge ist eine Flucht vieler Unternehmen aus ihren Verbänden, ein Mitgliederschwund in den Gewerkschaften und die Forderung, beide Tarifpartner in die Verantwortung zu nehmen.

Nicht von ungefähr kommen angesichts dessen die Forderungen der Ministerpräsidenten Beck und Clement, eine allgemeine mehrjährige Nullrunde einzulegen, die die Löhne einzig an der Inflationsentwicklung – und nicht an der Arbeitsproduktivität – festmacht. Lohnleitlinien, von politischen Dompteuren in die Arena geworfen? Die strikte Ablehnung der Gewerkschaften war vorprogrammiert.

Doch damit nicht genug, geht nun der Bundeswirtschaftsminister noch einen Schritt weiter, indem er eine Abkehr von der globalen Produktivitätsorientierung am Trend der Gesamtwirtschaft fordert und statt dessen für eine stärkere Beachtung der Unterschiede nach Qualifikation, Branche, Region und Arbeitsmarktlage plädiert. Mit anderen Worten: Die Löhne würden im Bankengewerbe und der verarbeitenden Industrie, zwischen Informatiker und Historiker, in München und in Schwerin wesentlich weiter auseinanderklaffen, als das heute der Fall ist.

An der Lohnmäßigung scheiden sich die Geister. Erscheint sie den einen unter Hinweis auf Kostengesichtspunkte plausibel, ist sie für andere gleichbedeutend mit einem Nachfrageausfall und zusätzlicher makroökonomischer Instabilität. Doch die Realität ist komplexer als diese Binsenweisheiten. Der Diskussion um die Rolle des Lohnes als Kosten- oder Nachfragefaktor fehlt es an empirischer Trennschärfe.

Arbeitslosigkeit ist vor allem ein Problem ungelernter Arbeitskräfte, die im Zuge des technischen Fortschritts wegen mangelnder Anpassungfähigkeit und zu hoher Löhne zunehmend freigesetzt werden. Für gelernte und andere qualifizierte Beschäftigte finden wir in Deutschland wie auch anderswo in Westeuropa weitgehende Vollbeschäftigung. Dies darf gerade in der lohnpolitischen Diskussion nicht vergessen werden. Der Arbeitsmarkt reagiert, wie die letzten Rezessionen gezeigt haben, sehr sensibel auf die Nachfrageentwicklung. Von einer Entkoppelung von Wirtschaftswachstum und Beschäftigungsentwicklung kann nicht gesprochen werden – im Gegenteil. Ungelernte werden von konjunkturellen Verwerfungen stärker erfaßt. Nachfragestabilisierung hat also ihren Sinn: Sie schafft auch Luft für eine strukturorientierte Arbeitsmarktpolitik.

Die volkswirtschaftliche Formel, nach der die Verteilung zwischen den Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital nur konstant sein kann, wenn die prozentuale Zunahme der Reallöhne dem Wachstum der Arbeitsproduktivität entspricht, ist leider nur ein mechanisches Modell – keine Wunderwaffe der Arbeitsmarktpolitik. Ein Konstanthalten der Reallöhne ergäbe zwar die Möglichkeit, eine gestiegene Arbeitsproduktivität dazu zu nutzen, auch solche Arbeitnehmer zu halten, die im Produktionsprozeß nicht mehr benötigt werden. Genausogut könnte dieses Potential aber auch dazu genutzt werden, schlicht die Einkommensverteilung zu verändern oder es durch Produktionseinschränkungen aufzubrauchen.

Wichtiger ist es, Wirkungszusammenhänge im Auge zu behalten. So kann man aufgrund empirischer Gesetzmäßigkeiten davon ausgehen, daß unter isolierten Bedingungen eine einprozentige Lohnmäßigung die Arbeitsnachfrage der Unternehmen über die ganze Volkswirtschaft hinweg um gut 200.000 Menschen erhöht. Gewiß eine beachtliche Zahl, aber ist sie angesichts von knapp vier Millionen Arbeitslosen wirklich ermutigend? Es ist leicht auszurechnen, wieviel Lohnmäßigung, genauer: Lohnverzicht erforderlich wäre, um die Arbeitsmarktsituation tatsächlich wirksam zu entspannen. Es wäre eine Milchmädchenrechnung, die viele Einflußgrößen unberücksichtigt ließe.

Schnell werden auf diese Weise gefährliche Illusionen geweckt: Die gestiegene Arbeitsnachfrage bedeutet nicht automatisch mehr Beschäftigung. In vielen Sektoren und Qualifikationsgruppen sind die Teilarbeitsmärkte geräumt, es kann also gar nicht zu mehr Einstellungen kommen. Globale Lohnleitlinien sind kontraproduktiv für den Kern des Problems: Nicht das allgemeine deutsche Lohnniveau ist zu hoch, eher gilt für die Entlohnung von Qualifikation im Vergleich mit Amerika das Gegenteil. Auch bei uns muß einfache Arbeit billiger werden können, die Lohnspanne zwischen niedrigen und hohen Einkommen muß sich erweitern.

Es ist ferner eine Illusion zu glauben, der technische Fortschritt ließe sich durch Tarifpolitik bändigen. Produkt- und Prozeßinnovationen werden wesentlich von Wirtschaftswachstum und Absatzerwartungen bestimmt. Dies diktiert Tempo und Umfang von Arbeitsfreisetzungen und Schaffung neuer Arbeitsplätze.

Ist die „Knüppel aus dem Sack“-Strategie der Nullrundenverfechter also eine wirtschaftspolitische Fehlleistung? Keinesfalls, denn sie kann, nein, sie sollte die Gespräche im Rahmen des Bündnisses für Arbeit beeinflussen. Das Bündnis ist im Aufwind, seit sich die Gewerkschaften bereit erklärt haben, auch über Tarifpolitik zu reden.

Allen Beteiligten muß klar gewesen sein, daß dies nur mit Lohnmäßigung in der einen oder anderen Weise zu tun haben kann. Globale Lohnleitlinien und undifferenzierte Mäßigung allerdings wären Gift für die wichtige volkswirtschaftliche Lenkungsfunktion der Löhne. Deshalb kommt der Zwischenruf des Wirtschaftsministers zur richtigen Zeit.

Die Gespräche im Bündnis müßten die Einsicht zu mehr tarifvertraglicher Differenzierung schaffen, durch politischen Druck, durch eindeutige Signale des Staates in der Steuer- und Abgabenpolitik, aber auch durch weitere Zugeständnisse der Unternehmen, beispielsweise im Rahmen der Arbeitszeitpolitik und der Mitarbeiterbeteiligung. Das vielbeschworene (vielleicht auch überschätzte) holländische „Modell“ bezieht seine Erfolgskomponenten ja gerade aus diesem Stoff: hoher politischer Einigungsdruck, Lohnzurückhaltung, Arbeitsumverteilung und harte Schnitte in die Staatsaktivität.

Vor zu hohen Erwartungen ist allerdings zu warnen: Auch Holland vermochte nicht das Arbeitsvolumen insgesamt wesentlich zu erhöhen. Klaus F. Zimmermann

Arbeitslosigkeit ist heute vor allem ein Problem ungelernter ArbeitskräfteNachfragestabilisierung schafft Luft für strukturorientierte Arbeitsmarktpolitik