Wie die irische Literatur entsteht
Von Wiglaf Droste

Die irische Literatur hat mit aller anderen Literatur gemein, dass sie von Aufschneidern und Prahlhänsen gemacht wird. Gegenüber der deutschen Literatur hat die irische den entscheidenden Vorzug, dass die Aufschneider und Prahlhänse keine Langeweiler sein dürfen. In einem Land, das Jonathan Swift, Oscar Wilde, George Bernard Shaw, Flann O'Brien und Brendan Behan feiert, hätte der Ödling Günter Grass erfreulich wenig Chancen. Grass, das wissen wir von ihm selbst, wurde in Deutschland von Verfolgung und Tod in Gestalt des HB-Männchens Marcel Reich-Ranicki bedroht. Jetzt garantiert der Literaturnobelpreis seinem Träger Günter Grass wenigstens ein Minimum an Schutz. So kann sich der Poseur der Aufklärung auch weiterhin bei literaturkarnevalistischen Festakten als Gewissen der Nation verkleiden und Leute protestantisch anduzen, mit denen er angeblich einmal befreundet war, aber wer will das wissen? „Halt's Maul! Trink deinen Rotwein!“, suppt es aus dem Schriftsteller heraus, der sich für interkontinental hoch bedeutsam hält, obwohl es nur zur guten alten Inkontinenz reicht. Am liebsten wäre Grass Präsident von der ganzen Welt. Das Leben des erstaunlich schlicht gestrickten Schnäuzerträgers kann in einem Satz zusammengefasst werden: Das Leben ist ein langer, zäher Redefluss.

In Irland fließt etwas anderes als Altmännerspucke. James Joyce beschrieb die Bewohner Dublins als „die hoffnungsloseste, nutzloseste und widerspruchsvollste Rasse von Scharlatanen, der ich je auf der Insel oder auf dem Kontinent begegnet bin. Der Dubliner verbringt seine Zeit mit Schwatzen und Rundgängen durch die Bars, Schänken und Spelunken, ohne je seine doppelten Quantitäten von Whiskey oder Home Rule satt zu kriegen, und nachts, wenn nichts mehr reingeht und er mit Gift angefüllt ist wie eine Kröte, stolpert er aus einem Nebenausgang und geht, geleitet vom instinktiven Wunsch nach Standhaftigkeit, der geraden Häuserfront entlang und schrubbt seinen Rücken an allen Mauern und Ecken.“

Der letzte Teil dieser Liebeserklärung enthält den Schlüssel zur irischen Literatur. Es ist das Rückenschrubben, das den Iren einzigartig macht. Der Ire ist ein Bär und braucht einen Kratzbaum, an dem er sich scheuern kann. Wo immer man ihn trifft, in seiner Wohnung, beim Hunderennen, in der Kneipe, lehnt der Ire an einer Wand, einer Absperrung, einem Zaun, einem Türpfosten und schubbert sich das Kreuz. Iren heiraten, weil es Stellen am Rücken gibt, an denen man sich alleine nicht kratzen kann. Wenn aber die Ehefrau nicht da ist, schrubbt der Ire seinen Rücken notgedrungen solo, an Mauern und Ecken und allem anderen Geeigneten, dessen er habhaft werden kann. Dabei brummt er behaglich und verzieht das Gesicht in genießerischer Verzückung.

Wenn er sich nicht kratzen kann, muss der Ire sublimieren. Dann macht er Musik, die so sehnsuchtsvoll, traurig und beglückend ist, dass man davon weinen muss. Oder er schreibt Literatur, großmäulig, aufschneiderisch, großherzig, überbordend, von keinen Pooka-Geistern verlassen und so fantastisch, dass selbst ein Ikea-Schriftsteller wie Günter Grass davon ans Träumen kommen müsste, wenn er wüsste, was das ist.