Masturbation und Moleküle

■ Sex am Ende des Abendlandes: Michel Houellebecq liest heute aus seinem erfolgreichen Skandalroman „Elementarteilchen“

Welch ein Elend! So unterschiedlich die Leben der Halbbrüder Bruno und Michel auch verlaufen, in ihrer Tristesse und Ausweglosigkeit nehmen sie sich nichts.

Michel war schon als Kind hyper-intelligent und nicht in der Lage, anderen Menschen gegenüber aus sich herauszugehen. Mit 40 Jahren ist er eine Koryphäe in der Molekularbiologie, hat noch nie mit einer Frau geschlafen oder Freunde gehabt. Bruno hingegen interessiert sich nur für Sex. Da auch er unfähig ist, emotionale Beziehungen aufzubauen, frustet er ein Dasein als Masturbationsjunkie – etwa alle zehn Seiten holt er sich einen runter. Seinem Job als Lehrer kann er außer dem Anblick junger Mädchen nichts mehr abgewinnen.

Verbunden sind beide durch eine Rabenmutter, eine verfrühte 68-erin, die lieber sich selbst in Hippiecamps verwirklichte, als ihren Söhnen ein schützendes Heim zu geben. Anhand der verkorksten Lebensgeschichten der Halbbrüder formuliert Houellebecq im äußerst erfolgreichen Roman Elementarteilchen seine Kritk an der heutigen Gesellschaft – dem „Zeitalter des Materialismus“. Das Grundproblem: Auf dem freien Markt der Geschlechter herrscht radikaler Wettbewerb; nur die Jungen und Schönen haben eine Chance. Die sexuelle Befreiung war ein großer Schmarren: Sex dient nur noch der narzistischen Imageproduktion. Wenn das Altern erstmal einsetzt, wird klar, dass echte Liebe – Menschlichkeit – unerreichbar ist.

Was zunächst nur die Position zweier Außenseiter ist, die auf die allgemeinen Verhältnisse ein interessantes Licht werfen könnte, wird durch Houellebecqs literarische Konstruktion zur einfältigen Klage vom Untergang des Abendlandes. Die Welt ist schlecht, ergo muss alles, was dem widersprechen könnte, säuberlich aus dem Buch herausgehalten werden. Die Sprache ist so tot, wie es ihre Figuren sind. Und ihr Denken verläuft in vornehmlich essayistischen Bahnen.

Da der Text als Roman daherkommt, gibt es auch so etwas wie eine Handlung. Beide Protagonisten erfahren mit einer Frau den Ausbruch aus der Isolation. Bruno lernt die tolerante Christiane kennen, die ihn in Swinger-Clubs einführt. Nie zuvor war Bruno so glücklich. Doch nach einem Sexunfall ist sie gelähmt und nimmt sich das Leben. Bruno landet in der Psychiatrie.

Michel trifft seine platonische Jugendliebe, die ihr Leben auch gründlich verpfuscht hat. Die beiden sind beinahe glücklich, und sie erwartet ein Kind von ihm. Stattdessen gibt es Gebärmutterkrebs und noch einen Selbstmord. Michel emigriert nach Irland und entwi-ckelt dort die Nachfolgerasse des Menschen – geschlechtslose Klone, die vom Makel der Fortpflanzung und Individualität befreit sind. Besser so, meint die Menschheit und stirbt innerhalb von 80 Jahren aus.

Gut auch, dass das Buch dann zum Ende kommt. Dass Entfremdung blöd ist, wissen wir. Wo die sie produzierende Gesellschaft nicht mehr als veränderbar gedacht werden kann, wird daraus eben ein anthropologisches oder genetisches Problem. Und wo ein verklemmter Intellektueller einen Roman dazu missbraucht, seine Philosophie zu verwursten, ist das Ergebnis schlechte Literatur.

Michael Müller

heute, Literaturhaus, 20 Uhr (die Lesung ist restlos ausverkauft!); Michel Houellebecq: „Elementarteilchen“. Roman. Dumont, Köln 1999, 457 Seiten, 44 Mark