Crack und Schreibtisch

Der ehemalige New Yorker Obdachlose Lee Stringer liest heute aus seinem Buch „Grand Central Winter“  ■ Von Michael Müller

„Ich zieh am Mundstück, und im Kopf bildet sich eine dicke wirbelnde Wolke. Ich merke nicht, wie heiß der Rauch ist, als ich ihn schlucke. Aber ich kann ihn schmecken. Ich weiß sofort, dass ich diesen Geschmack lieben werde. Der Geschmack von Erfolg, Liebe, Orgasmus, Allmacht, Unsterblichkeit und einem Lottogewinn gleichzeitig.“ So macht Lee Stringer 1985 Bekanntschaft mit Crack, zwei Tage nachdem sein Bruder gestorben ist. Die Leere seines Jobs als Grafikdesigner hat der Afroamerikaner schon zuvor mit Alkohol aufgefüllt. Der Abstieg ist steil – neun Monate später steht Stringer auf der Straße: einer von tausenden Obdachlosen in New York.

Von da an jagt er mit verschiedenen Beschäftigungen den Dollars für den nächsten Hit nach. Lukrativ ist vor allem das Einsammeln von Pfanddosen. Eines Tages findet er in seinem Unterschlupf in der Grand Central Station bei der Suche nach einem Gegenstand zum Reinigen der Pfeife einen Bleistift. Bald benutzt er ihn auch zum Aufkritzeln kleiner Geschichten und entdeckt so eine neue Obsession: Neben die Droge tritt das Schreiben. Vom Verkäufer der Street News, dem New Yorker Pendant zu Hinz und Kunzt, steigt er zum Redakteur des Blattes auf. Das Gehalt ist zwar lächerlich, doch auf dem Sofa der Redaktion findet er eine Bleibe. Er schreibt Reportagen und beantwortet in der Kolumne Ask Homey Fragen zur Obdachlosigkeit. Nach Jahren zwischen Schreibtisch und Crackpfeife wagt er den Entzug. Er schafft ihn und hat mit Grand Central Winter seine Geschichte als Buch veröffentlicht.

Diese Version des American Dream hätte ein sozialromantisches Märchen werden können. Politische Bissigkeit ist es nicht, was das Buch davor bewahrt. Stringer ist ein liberaler Humanist, der eindeutige Positionen zur Problematik vermeidet. Die explizite Botschaft der Reportagensammlung ist lediglich ein christlich-moralischer Appell: Alle sollten etwas mehr Rücksicht auf die Schwächsten der Gesellschaft nehmen. Damit kann jeder leben. Das klingt ein wenig nach Weihnachten und erklärt vielleicht auch den großen Erfolg des Buches.

Stringers Stärken liegen anderswo: Er ist ein überragender Erzähler. In kurzen, prägnanten Sätzen fügt er Erlebnisse, Gespräche, Augenblicke zu messerscharfen (Röntgen-)Bildern, die stets über den betrachteten Gegenstand hi nausweisen. Von New York – ganz unten, so der Untertitel, hat er einen ganzen Sack voller Geschichten mitgebracht, wie man sie selten lebendiger gelesen hat. Sie berichten in einer klaren Sprache vom Leben auf der Straße.

Da ist etwa Stadtvagabund Richard. Durch einen gescheiterten Mordversuch zu einem Haufen Schmerzensgeld gekommen, verliebt er sich Hals über Kopf in die Prostituierte Suzi. („Exotische Tänzerin. Peepshowstar. Begleit-service. Nutte. Junkie“, kommentiert Stringer lakonisch die unvermeidliche Karriere.) Richard ist besessen von der Idee, sie zu retten, und heiratet sie. Von Suzi enttäuscht, geht er in väterlicher Liebe zu ihrer Tochter Valentine auf. Deren dritten Geburtstag schildert er folgendermaßen: „,Auf gehts!' sagt Richard, aufgekratzt wie eine Turnlehrerin in der Mädchenschule, und seine penetrante Fröhlichkeit fängt an, sogar mir auf die Nerven zu gehen. Ich muss an das einzige Mal denken, als mein Vater mich zu sich nach Hause eingeladen hat. Er war so bemüht um gute Laune, fragte mich wieder und wieder, ob ich Spaß hätte, dass ich nur noch meine Hände um seinen Hals legen und zudrücken wollte (...) Während meine Augen von Valentine zu Richard und Suzi wandern, denke ich immer nur, wie sehr, sehr, sehr viel Mühe sich ein Mensch gibt, der einsam ist.“

Die Versuche, mit dem Verkauf der Street News Geld einzunehmen und Würde zu bewahren, beschreibt Stringer ebenso ehrlich wie die Entzugsqualen des Crackheads. Der Sensationsjournalismus bekommt genauso sein Fett weg wie die städtische Vertreibungspolitik zur „Hebung der Lebensqualität“ – die ja bekanntlich nicht nur ein New Yorker Problem ist. Wenn „Einsammeltag“ ist, reicht Schwarzfahren in der U-Bahn aus, um ein paar Tage eingebuchtet zu werden. Anschließend bekommt man ein Ti-cket zur Heimfahrt. Aus Absurditäten wie dieser schöpft Stringer eine weitere Qualität: einen unverwüstlichen Humor. Der zieht sich nicht von ungefähr durch das gesamte Buch. Schließlich ging es Stringer auch darum, den Mythos zu entkräften, dass Obdachlose 24 Stunden am Tag verzweifelt sind.

heute, 18 Uhr, Rathauspassage, U-/S-Bahnhof Jungfernstieg, Eingang Reesedamm; Lee Stringer: „Grand Central Winter. New York – ganz unten“. Verlag Herder, Freiburg/Basel/Wien 1999, 240 Seiten, 38 Mark