Die Panik vor der Revolte

Peter Glotz ist abseits antikapitalistischer Juso-Rhetorik der Spitzendenker der deutschen Sozialdemokratie. In seinem Buch zur „beschleunigten Gesellschaft“ schlägt er sich ganz auf die Seite einer bedenkenlosen Globalisierung und warnt eindringlich vor „Kulturkämpfen im digitalen Kapitalismus“

von MATTHIAS GREFFRATH

Die „Arbeit der Zuspitzung“ hat Peter Glotz die Aufgabe des politischen Intellektuellen genannt: die Wirklichkeit so zu analysieren, dass Gefahren deutlich, politische Alternativen denkbar und Wege in die Zukunft sichtbar werden. In den Achtzigerjahren noch hat Glotz im Angesicht der kommenden Rationalisierungsarbeitslosigkeit früh das Wort von der „Zweidrittelgesellschaft“ geprägt und der europäischen Linken ein wertkonservativ-dynamisches Projekt verordnet: die Rettung der Arbeitsgesellschaft, des öffentlichen Rundfunks, der europäischen Kulturlandschaft und des untergehenden Venedig.

Inzwischen hat das Kapital unbehelligt ein paar Runden gedreht, und alles ist etwas schneller geworden. Glotz ist immer noch fasziniert von der Globalisierung, vom rasanten Wachstum der Speicherkapazitäten, der explosiven Zunahme des Welttelefonaufkommens und der Möglichkeit, die Heizung in seinem südfranzösischen Ferienhaus von St. Gallen aus anzuknipsen. So weit und hundert Seiten lang in seinem neuen Buch, „Die beschleunigte Gesellschaft“, nichts Neues. Aber dann stellt er, gegen die tief religiösen Überzeugungen liberaler Ökonomen und Politiker (fast) aller Parteien fest: Die Spaltung der Weltbevölkerung in eine „gut ausgebildete Elite“ und eine „wachsende Zahl von Arbeitlosen und Unterbeschäftigten“ sei chronisch, und sie werde „durch die technische Entwicklung gestützt“.

Die Computerisierung schafft zwar Arbeitsplätze, aber eben solche zur Herstellung von Produkten, deren Sinn gerade darin besteht, Arbeit zu ersetzen. Und keine neue Basisinnovation ist in Sicht, die eine neue, lange Konjunktur bescheren könnte wie seinerzeit die Elektrizität, das Automobil, der Kunstdünger, das Fernsehen. „In realistischen Nebenbemerkungen in der Aufsichtsratspause“ werde das alles längst ausgeplaudert, verrät Glotz, aber nicht öffentlich: „Fraglich ist nicht die Entstehung (beziehungsweise Verfestigung) einer neuen Underclass; die politischen Klassen sind längst nicht mehr mächtig genug, diese Entwicklung zu verhindern.“

Es gehe nur noch darum, ob das überflüssige Drittel der Menschen eingeschlossen in die Gesellschaft bleibt, ob die neuen Klassenkämpfe mit Gewalt oder mit Geld ausgetragen werden. Unterhalb der hart arbeitenden Neuen Mitte – die sich jeglicher Umverteilung von Arbeit oder Ressourcen widersetzt – entstehe ein neues Subproletariat (aus Arbeitslosen, Überforderten, unbeschäftigten Frauen, schlecht ausgebildeten Jugendlichen). Diese wachsene Gruppe endgültig Ausgegrenzter sei nicht länger SPD-Klientel, sondern bleibe sich selbst überlassen, werde allerdings von einer Art Gegenelite aus freiwilligen Antikapitalisten, Entschleunigern und Ökologen in neue „Kulturkämpfe im digitalen Kapitalismus“ geführt werden.

Heute noch seien „glückliche Arbeitslose“ nichts als eine „verrückte Splittergruppe“, aber eine mit Zulauf. Einst hatte Glotz, in seinem Buch „Innenansicht der Macht“, Erkenntnisse über die besinnungslose politische Elite, die dieser nicht schmeichelten; heute sind sie ihm Teil der „neuen Ideologie“, die den Leistungswillen der nachwachsenden Generation und die deutsche Performance auf dem Weltmarkt gefährde und damit den Massenwohlstand und die Bereitschaft der Zweidrittelgesellschaft, die Überflüssigen zu alimentieren: „Wer von der Arbeitswelt zurückgestoßen wird, wird begründen, warum Erwerbsarbeit fragwürdig sei. Es werden Millionen darauf verfallen, dass Eltern sich viele Stunden täglich ihrem Säugling widmen müssen, dass Menschen meditieren sollen, dass ein gesunder Körper viel Pflege braucht, dass nur ein sparsamer Lebensstil ökologisch sei oder dass das Weltgericht so unmittelbar bevorstehe, dass es keinen Sinn mache, neue Teilchenbeschleuniger zu bauen oder neuartige Zahnzwischenraumbürsten zu vermarkten. Eine neue Welle der antirationalistischen Kulturkritik wird aufsteigen: pathosgeladene Proteste gegen die Vergletscherung der Seele, neue Familienwerte, eine Dosis neuer Religiosität, aber auch politisch, mystisch oder apokalyptisch auftretende Zirkel.“

Über dieser diffusen Unterwelt muss sich der neu gemittelte Mittelständler, der Verwalter des eigenen Humankapitals, „vorbehaltlos der Nanosekundendiktatur des digitalen Kapitalismus unterwerfen“, zunehmend frei von Beschwerden, denn „psychischer Druck, Unfähigkeit zur Kontemplation, Sprunghaftigkeit, Vergessen“ seien zwar irgenwie spürbar, aber „vorwissenschaftlich-psychologische Beobachtungen“, die sich als Basis einer Gesellschaftskritik nicht eigneten.

Glotz entlarvt alle je geäußerten kulturkritischen Gedanken und alternativen Visionen: die deutsche Romantik, die linke wie konservative Kritik an der Entfremdung, die Frankfurter Schule, die Warnungen des Club of Rome, die Grünen, New Age, Paul Virilio, Neil Postman, Richard Sennett – alles nur donquichotteske Außenseiter, „teils tragisch, teils tragikomisch“, teils nur noch „komisch“ wie Jürgen Habermas, die in „Antirationalismus“, „Zivilisationsangst“, „Lebensimpotenz“ verröcheln.

Von den Untüchtigen, den Aussteigern, ist nichts zu erwarten, auch dem nur noch ironisch kommentierten „Schrei nach Gerechtigkeit“ bescheinigt Glotz nur „gut vorhersehbare Erfolglosigkeit“, und der „Entdeckung der Langsamkeit“ misst er ausschließlich deshalb Wichtigkeit bei, weil die „Marktpräsenzzeiten von Produkten in der Mikroelektronik so kurz (geworden) sind, dass die Nachfrage das neue Produkt nicht mehr als solches identfizieren kann“.

Und doch wittert der Warner bei den Überflüssigen eine Mentalitätsbombe: „Noch ist die Ideologie des dritten Drittels unterlegen. Aber wie lange? Schon ziehen sich Manager in abgelegene Klöster zurück, um sich von teuer bezahlten Gurus Augustinus, Konfuzius oder Teilhard de Chardin auslegen zu lassen. In den Parks vermehrt sich die Zahl ganz normal aussehender Leute, die langsam seltsame Verrenkungen machen und dabei irgendwelche Laute ausstoßen. Wenn man sich informiert, hört man, diese Übung heiße Tai-Chi.“

Und dann die überraschende, die traurige Volte in der Schlussgeraden des ausgrenzenden Fortschrittstaumels: Mit André Gorz plädiert Glotz für ein „bedingungsloses Grundeinkommen“, ausreichend, dass die Menschen ihr Leben neben der großen Maschine Kapitalismus leben können; plädiert er ebenso für eine internationale Spekulationssteuer, die er gerade noch völlig unrealistisch fand.

Eine erstaunliche Wendung: Die Idee der guten Gesellschaft erscheint wieder, nachdem Glotz sie bereits als rührende Donquichotterie verabschiedet und alle Lebensreformer als Weicheier denunziert hat. Und doch wird man nicht so recht froh drüber. Denn wie erscheint sie? Nicht mehr aus der Tradition: der eigenen Partei, der immer noch lebendigen Idee der Gerechtigkeit. Nur noch die Angst vor fundamentalistischen Revolten der zu würdelos Alimentierten könnte den Mehrheitsblock dazu bringen, Geld oder gar Arbeitsplätze zu teilen.

Glotz warnt die Besitzenden: Gebt ihnen etwas ab, sonst werden sie eure Wege belagern, euer empfindliches Wirtschaftsgeflecht stören und eure empfindsamen Seelen belasten. So aber schreibt kein Aufklärer mehr, der an der europäischen Idee der guten Gesellschaft festhält, weil sie ein Ziel in sich ist. So schreibt niemand, der noch vorhat, die da unten zum Ausgang aus ihrer nicht verschuldeten Lage zu ermutigen. So schreibt ein Aufklärer im militärischen Sinn, der den Herren und Herrchen von Chip und Dax zuruft: Gebt denen unten auch was, sonst kommen sie und sabotieren eure teuren Anlagen.

Peter Glotz denkt wieder einmal vor. Er formuliert die politische Arbeitsteilung nach dem Ende der Sozialdemokratie: Oben wird produziert, unten Brot und Spiele. Aber angesichts der Tatsache, dass die Dinge, wenn nichts passiert, durchaus so laufen könnten, überlässt er uns der Frage, ob wir uns von dem merkwürdigen Bündnis von wertkonservativen Kritikern, lebensreformerischen Aussteigern und Ausgegrenzten, Unterqualifizierten und Schwachen noch etwas erwarten. Ob die „ganz normal aussehenden Leute“ noch einmal politische Kraft gewinnen können? Und wenn nicht: Wie das denn gehen können soll, eine Demokratie, in der ein Drittel nicht dazugehört? Eine Zukunft ohne das Versprechen von Gerechtigkeit, ohne Ausgleich zwischen Nord und Süd? Wer überhaupt noch Lust auf Politik bekommen soll, wenn das Notwendige so gründlich wegdefiniert wird? Wenn niemand mehr zuspitzt?

Peter Glotz: „Die beschleunigte Gesellschaft. Kulturkämpfe im digitalen Kapitalismus“. Kindler, München 1999, 288 Seiten,44,90 MarkMATTHIAS GREFFRATH, Jahrgang 1945, taz-Essayist, lebt als Publizist in Berlin.