Blind oder befangen

Tagung zu Rechtsextremismus und Justiz in Schleswig: „Erwartungsdruck nicht zu erfüllen“  ■ Von Elke Spanner

Richterschelte ist an der Tagesordnung. Die Justiz ist „auf dem rechten Auge blind“, heißt es, wenn ein Demonstrationsverbot für Neonazis gerichtlich aufgehoben wird oder ein rechter Gewalttäter eine Strafe bekommt, die öffentlich als mild empfunden wird. Dabei haben die einzelnen RichterInnen einen Seiltanz zu absolvieren: Einerseits üben sie staatliche Macht aus, andererseits sind sie nicht politischen Zielsetzungen, sondern allein den Gesetzen verpflichtet – und dadurch leicht dem Verdacht ausgesetzt, „befangen“ oder umgekehrt „rechtsblind“ zu sein. Wie dieser Seiltanz zu meistern ist, thematisierte gestern das schleswig-holsteinische Justizministerium auf einer Fachtagung in Schleswig.

Gerade Schleswig-Holstein war in den vergangenen Monaten vielfach mit dem Tagungsthema „Rechtsextremismus – Eine Herausforderung auch für die Justiz“ konfrontiert: Nach dem Brandanschlag auf MigrantInnen in Mölln und die Jüdische Synagoge in Lübeck stellte sich Mitte der Neunziger Jahre die Frage nach angemessenen Strafen für rassistisch motivierte Täter. Zudem befindet sich in Neumünster mit dem Club 88 ein Neonazitreffpunkt, über dessen Fortbestand VerwaltungsrichterInnen zu entscheiden haben. Und seit dessen Schließung durch die Stadt erwogen wurde und Neonazis mehrfach Demontrationen dagegen anmeldeten, hatten die Gerichte zudem vermehrt über das Demontrationsrecht für Rechtsextremisten zu entscheiden.

„Den auf uns lastenden Erwartungsdruck“, fasste der Vorsitzende des schleswig-holsteinischen Richterverbandes Andreas Martins die Stimmung unter vielen KollegInnen zusammen, „können wir gar nicht erfüllen“. Auch der aus Karlsruhe angereiste Generalbundesanwalt Kay Nehm befand, die Möglichkeiten der Justiz würden bei weitem überschätzt. Bei Strafprozessen beispielsweise sitze der Angeklagte nicht als Feind, sondern schlicht als Prozessbeteiligter im Saal, und „rechtsstaatliche Garantien gelten auch für Feinde des Rechtsstaates“. Ihre Möglichkeiten würden die Gerichte ausschöpfen, verwehrte er sich gegen Schelte, allein „dass wir unsere Arbeit nicht öffentlich deutlich machen können“, sei das Problem.

Auch Oberstaatsanwalt Möller aus Lübeck wies den Vorwurf zurück, die Justiz sei auf dem rechten Auge blind. Er räumte jedoch ein, dass der Eindruck durchaus entstanden sein könne. Nach den Brandanschlägen auf MigrantInnen in Mölln und Hoyerswerda beispielsweise seien in der Beweiserhebung eklatante Fehler begangen worden. Damals jedoch, so Möller, hätten die Ermittler erst die Strukturen aufbauen müssen, über die sie mittlerweile verfügen: Sonderdezernate bei Polizei und Staatsanwaltschaft. Obwohl nun genügend Instrumentarien vorhanden seien, fühlte er sich gestern „an die Anfänge“ zurückerinnert: „Diese Diskussion müssten wir eigentlich längst hinter uns haben.“

Die TagungsteilnehmerInnen waren sich einig, dass harte Strafen allein Rechtsextremismus nicht unterbinden könnten. Dennoch führte Generalbundesanwalt Nehm als Beleg für seine These von der tatkräftigen Justiz an, dass gegen Neonazis seit 1978 insgesamt „einmal lebenslang und 177 Jahre und drei Monate“ verhängt worden seien. Das bezeichnete er als „stolze Bilanz“.

Den ideologischen Aspekt des Neofaschismus blendete Nehm aus. Er problematisierte allein rechte Gewalt, und die sei vor allem dann bedrohlich, wenn sie auf breite Zustimmung in der Bevölkerung stoße – wie in Rostock oder Hoyerswerda. Politischer Leitbilder, die zum Antifaschismus aufrufen, bedürfe es nicht, „heute kann es sich ohnehin kein Politiker mehr leisten, von der Grundlinie, die wir alle hier vertreten, abzuweichen“. Was einen Richter zu der Bemerkung veranlasste, dass sich gerade deshalb „beim ,Aufstand der Anständigen' viele befinden, die selbst mit dafür gesorgt haben, dass es brennt. Und jetzt rufen sie nach der Feuerwehr“.