Alles beginnt mit der Skizze

David Teboul führt ein in das Reich des letzten bürgerlichen Modekünstlers Yves Saint Laurent. Eleganz und Stil entwickeln sich bei ihm aus dem Versuch, das schöne Innere nach außen zu kehren

von MARCEL MALACHOWSKI

Als Yves Saint Laurent im Januar seinen Abschied von der Mode verkündete, war das doch ein Schock. Der nur wenig später erschienene umfänglich und aufwändig produzierte Bildband unter dem Titel „Yves Saint Laurent. 5, avenue Marceau, 75116 Paris, France“ war nicht unbedingt diesem Rücktritt gedankt, in Hinblick darauf aber ein Glücksfall. Denn in dem Band geht es nicht um die Skandale Yves Saint Laurents, seine Drogenexzesse und Depressionen; es geht nicht um Homosexualität, Mythen und Klischees, sondern ausschließlich um das künstlerische Werk und darum, wie und wo, durch wen und zwischen wem es entsteht. Der Band ist eine überaus gelungene, detailinteressierte Dokumentation der Arbeit YSLs und der Umgebung, die er sich dafür schuf. Denn, so ist in der Einführung zu lesen, der „ureigenste Ort des Modeschöpfers ist sein Studio, das für ihn die ganze Welt ist und ihn zugleich vor ihr beschützt“.

Das opulente, gleichwohl im Gestus zurückhaltend-elegante Buch ist aus einer gleichnamigen Fernsehdokumentation hervorgegangen, die heute Abend um 23 Uhr vom WDR ausgestrahlt wird. Regisseur und Autor ist der Historiker und Politikwissenschaftler David Teboul, der über sein Interesse für YSL aus subjektiver Perspektive erzählt: „Ich habe meine Kindheit mit Frauen verbracht, die alle die Modezeitschrift Elle lasen. Darin war häufig von YSL die Rede – einem Modeschöpfer und geheimnisvollen Menschen. Für mich gehörte er daher mehr zur Welt der Literatur als zur Mode.“

Für YSL selbst war die Mode keine Form der Kunst, sondern eine des Handwerks, das vom Talent lebt. Und doch hat er in seiner höflichen Bescheidenheit, die sich im avantgardistischen Konservatismus seiner Entwürfe – auch für Theater und Film – ausdrückte, die Mode zur Kunst gemacht hat. Es war eine stilistische Reduzierung, die YSL vornahm, als er etwa den Smoking oder den Trenchcoat neu erfand, indem er diese Kleidungsstücke anmaßend der Weiblichkeit anpasste, sie mit Blusen, Hosenanzügen oder engen Röcken in Knielänge kombinierte, mit unaufdringlichem Goldschmuck arrangierte und mit Spitze oder Schleifen verzierte. Bei den Entwürfen seiner taillierten Jacketts ließ er sich von strengen Uniformjacken inspirieren.

Diese Reduktion lebte davon, im Rückbezug auf die Klassik den Moment der Verzauberung immer wieder neu zu erzeugen, – aber auch im Rückgriff auf weniger offenkundige Einflüsse wie den Maghreb, den Orient, Russland und China. Denn „alles beginnt mit der Skizze“. Alles beginnt mit der zeichnerischen Abbildung einer durchdringenden Erinnerung; ebenjener Reise zurück ins Land der Kindheit, auf der sich David Teboul während seines Aufenthalts in der Avenue Marceau wähnt. Vor allem die Erotik, die er dort vorfindet, „weist in die Kindheit zurück – nicht nur des Individuums, sondern des Menschen, wie er von Aristophanes in Platons ‚Gastmahl‘ beschrieben wird: ‚Zuerst gab es drei Geschlechter von Menschen, nicht wie jetzt nur zwei, das männliche und das weibliche, sondern ein drittes dazu, welches das gemeinschaftliche war von diesen beiden, dessen Name auch noch übrig ist, es selbst aber ist verschwunden‘“, wie Teboul Platons Aristophanes zitiert. Dieses „dritte Geschlecht“ lebt im „Leiden des Modeschöpfers“ YSL weiter, seine „tatsächliche Gestalt aber nimmt [es] erst in dem Mannequin an, das über den Laufsteg schreitet“. YSL war der letzte Vertreter des progressiven Bürgertums in der Mode, der dem „ästhetischen Phantom“ folgte; es suchte und es jagte, wie YSL selbst sagte.

Die gerne erwähnte „Schüchternheit“ Yves Saint Laurents mündete in den künstlerischen Verzicht auf den gewaltsamen Tabubruch, wie er später von Alexander McQueen oder der neuen Antwerpener Schule des Walter van Beirendonck durchexerziert wurde. Er kehrte sich in seiner Arbeit in einen gnadenlosen Anspruch an die schöne, zeitlose Form um, die es nicht nötig hat zu übertreiben, weil in ihr bereits alles Darstellungswürdige enthalten ist. YSL spielte deshalb weniger mit der radikalen Umkehr der geschlechtlichen wie anderer gesellschaftlicher Codes und Zeichen, wie es dann Gaultier oder Thierry Mugler taten. Er inszenierte vielmehr die Metamorphose der Oberfläche, die flüchtige Verwandlung, die irrlichternde Erscheinung, die sich, so Teboul, „je nach Tageszeit den Augen anders zeigt – als Elfe, als Luftgeist oder als Passantin, die auf der Straße vorübergeht“. Das Erhaschen des flüchtigen, privaten und intimen Glücksmoments als Opulenz des Lebens.

Für YSL war die Mode eine prachtvolle wie naive Verschönerung des Alltags, ein Auftrumpfen der Lebendigkeit, die Erzeugung einer kurzweiligen Paralysierung durch den Anblick anbetungswürdiger Anmut. Nicht nur Catherine Deneuve war daher YSL-Kundin aus Überzeugung: „Er entwirft für Frauen mit einem Doppelleben. Tagsüber hilft er uns, in einer Welt voller unbekannter Menschen zu bestehen. Wir können uns in seinen Kreationen frei bewegen, ohne aufzufallen, und ihre leicht maskuline Note gibt uns die Kraft, auch konfliktträchtige Situationen durchzustehen. Am Abend, im Kreis von Freunden und Verwandten, verleiht uns seine Kleidung einen verführerischen Charme.“ Tagsüber trug diese doppelte Frau bei YSL ein praktisches Schwarz, während sie mit der Dämmerung zu schimmernden, doch nicht zu penetranten Farben griff.

Das Hervorheben der natürlichen Weiblichkeit durch den Akt der Verkünstlichung, die Verhüllung durch die poesiereiche „Entschleierung“ (Teboul) war gerade die Kraft im Werk von YSL. Saint Laurent übertrieb sogar mehr als die üblichen Verdächtigen, die Provokateure der Mode nach der Mode, indem er die kapriziöse Weiblichkeit nicht „pornografisch“ entwertete, sondern indem er der Frau nur eine repräsentative Hülle verlieh – ähnlich wie Coco Chanel mit dem „kleinen Schwarzen“: „Eine Dame trägt keine Kleider. Sie erlaubt den Kleidern, von ihr getragen zu werden.“ (YSL)

Durch die kulturelle Revolution von 1968 ähnlich geprägt wie Vivienne Westwood, hat Yves Saint Laurent der Frau einen körperlichen Stolz vermittelt, indem er ihre Würde in glamouröse Materialien wie Pelz, Leder, Federn, Seide und Samt, in nicht einengende Schnitte, aber in figurbetonte Konturen kleidete – und nicht verkleidete. Eleganz und Stil hießen für YSL nicht allein Arbeit an der Oberfläche, sondern es war der Versuch, das schöne Innere nach außen zu kehren. Aber er blieb auch skeptisch im Hinblick auf den Erfolg seiner Arbeit. Denn, so sagte er: „Die Frauen, die jede Modeschöpfung unbedingt zuerst tragen wollen, sind meist jene, die es bleiben lassen sollten.“

An seiner intellektuellen wie materiellen Weltläufigkeit, die heute vielleicht bei Prada zu finden ist, scheidet sich die „Einfachheit“ YSLs von der tristen Askese etwa eines Joop. YSL hat provoziert, indem er auf jede offenkundige Provokation verzichtete. Doch er schaffte es auch, sich bei Feministinnen unbeliebt zu machen – etwa durch das „Opium“-Werbeplakat, auf dem Sophie Dahl nur Stilettos trug. Seine Models, darunter seine langjährigen, dunkelhäutigen Musen Katoucha Niane und Mounia, trugen nicht allein seine Kleidung, er schneiderte sie für sie, wie er charmant meinte. Die Schönheit war ihm genug. Oder, wie er zum Abschied sagte: „Die schönsten Paradiese sind die, die einer verloren hat.“

David Teboul: „Yves Saint Laurent. 5, avenue Marceau, 75116 Paris, France“. Knesebeck Verlag, München 2002, 528 Seiten, 245 Abb., 55 €