Räuber & Gendarm

Warum die „Revolutionäre Organisation 17. November“ 27 Jahre lang ungestört blieb. Vom Mythos der Athener Stadtguerilleros

von NIELS KADRITZKE

Der Showdown verlief ganz undramatisch. Der mutmaßliche Kopf der „Revolutionären Organisation 17. November“ (17N) wurde nicht nach einem Feuergefecht in den Athener Straßenschluchten gefasst. Die Verhaftung erfolgte fast diskret auf der 400-Seelen-Insel Lipsi. Ein Dorfpolizist hatte Alexandros Jotopoulos identifiziert, der dort seit zehn Jahren – als Professor Oikonomou – ein Ferienhaus hatte.

Der 58-Jährige mit den weißen Haaren war allseits beliebt. Einen Zwist hatte er nur mit dem Bürgermeister, weil sich sein Haus nicht in die weiße Inselarchitektur fügte. Der Gründer der griechischen Stadtguerilla bestand auf Toskanarot.

So herrisch wie ein rotes Haus in einem Ägäisdorf war auch das Konzept der 17N-Revolutionäre. Seit Dezember 1975 haben sie 120 Attentate begangen und 23 Menschen umgebracht, anfangs mit Revolvern und Autobomben, seit 1990 auch mit Bazooka-Raketen. Was ihre Aktionen bewirken sollten, wurde mit der Zeit immer rätselhafter. Nach jedem Anschlag publizierten sie hochfahrende Rechtfertigungen, ohne je eine politische Strategie zu entwickeln. Mal attackierten sie multinationale Konzerne, mal Athener Finanzämter – stets im Namen der kleinen Leute. Mal geißelten sie die exzessiven griechischen Rüstungsausgaben, mal forderten sie einen Krieg mit der Türkei.

Mit ihren Aktionen und Deklarationen wollten sie keine neuen Anhänger gewinnen wie die italienischen Roten Brigaden und keinen lauernden Faschismus aus dem herrschenden System herauskitzeln wie die deutsche RAF. Ihre Attentate: reine Selbstdarstellung und sinnlos wie Denkmäler, die sie zum Ruhm des 17. November in die politische Landschaft rammten.

Dabei konnten sie zunächst mit einen gewaltigen Sympathievorschuss wuchern – dank ihres Namens. Am 17. November 1973 wurde der einzige Aufstand gegen die griechische Militärdiktatur niedergeschlagen. Studenten hatten das Athener Polytechnikum besetzt, bis Panzer vorrückten. Ihre Niederlage führte zur Verschärfung des Regimes unter dem Obristen Dimitris Ioannides.

Ein Teil jener Studentengeneration hat das Ereignis nie verwunden. Und sie hat es dem Staat nie verziehen, dass er nach dem Fall der Junta die meisten Schergen und Funktionäre der Obristen unbehelligt ließ. Wer den Rächer der politisch Enterbten spielte, konnte zumindest in dieser Generation auf Nachsicht rechnen. Die Rache traf als ersten Richard Welsh. Den Mord am Athener CIA-Chef erklärten die 17N-Täter zur Hinrichtung eines Juntahelfers. Das Muster wiederholte sich, als sie im Jahr darauf den Polizeifolterer Evangelos Mallios „exekutierten“. Aktionen wie diese machten die Gruppe international bekannt. Im Dezember 1980 publizierte die Pariser Libération deren Bekennerbrief zu den ersten „Hinrichtungen“. Übermittler: Jean-Paul Sartre.

Ob die griechische Gruppe damals mit anderen terroristischen Gruppen Kontakt hatte, ist bis heute eine offene Frage. Politisch brisanter war der Verdacht, der von US-Geheimdienstkreisen aufgebracht wurde: Der 17N seit mit der Linkspartei Pasok verflochten, deren Wurzeln ebenfalls in den Widerstand gegen die Junta zurückreichen. Das Gerücht sollte Pasok-Führer Andreas Papandreou diskreditieren, den die Amerikaner seit Beginn der Sechzigerjahre als ihren griechischen Intimfeind betrachteten.

Als Papandreou nach seinem Wahlsieg von 1981 in Athen die erste linke Regierung seit 1945 bildete, wurde die Verflechtungsthese politisch zugespitzt. Warum verkündete der 17N nach dem Pasok-Wahlsieg eine „Kampfpause“? Den Auguren war das Beweis genug, dass die Pasok mit ihren alten „Genossen“ unter einer Decke steckte.

Die Kampfpause endete am 15. November 1983. Der Mord an einem Verbindungsoffizier der US Navy war ein erklärter Schlag auch gegen die Papandreou-Regierung. Die hatte in den Augen des 17N ihre Wähler „verraten“, weil sie weder die Nato verlassen noch die US-Basen auf griechischem Boden gekündigt hatte. Spätestens als im April 1986 ein enger Freund Papandreous ermordet wurde, war die Pasok-Regierung fest entschlossen, den falschen Genossen das Handwerk zu legen.

Warum konnte der 17N dennoch weiteroperieren, als ob es in Griechenland kein staatliches Interesse an der Bekämpfung des Terrorismus gegeben hätte? Die Antwort, die jedem Griechen auf der Zunge liegt, klingt im Ausland völlig unglaubwürdig. Die desorganisierte, unfähige und schlampige Organisation, die sich griechische Polizei (EL.AS.) nennt, war für eine intelligent operierende Untergrundorganisation kein ernsthafter Gegner. Zumal sich die EL.AS. in kleinliche Rivalitäten mit dem Geheimdienst EYP verstrickte, der als ebenso chaotischer Haufen gilt.

Die Unfähigkeit der griechischen Polizei skizziert eine Episode, die in jeder „Pleiten Pech und Pannen“-Show als zu platt rüberkommen würde. Die Szene spielt in Athens Riancourstraße, wo die EL.AS. einer 17N-Gruppe auflauern wollte. Ein Terroristenkommuniqué schilderte den „Hinterhalt“ so: „Die Einheit bestand aus drei Polizisten, die in einem geparkten Fiat saßen, ein vierter mimte auf der anderen Straßenseite einen Bauarbeiter. Die Polizisten in dem Pkw waren damit beschäftigt, aus Plastikbechern ihren Kaffee zu schlürfen! So was nennen die einen Hinterhalt! Sobald sie sahen, wie wir unseren Lieferwagen parkten, schrieben sie unsere Nummer auf und gingen zum gegenüber liegenden Kiosk, von wo sie ihre Zentrale anriefen, um zu erfahren, ob unsere Auto gestohlen war.“

Das 17N-Kommuniqué machte den Griechen klar: Bei uns beschatten die Terroristen die Polizei und nicht umgekehrt! Wer in Griechenland den Staat blamiert, hat die halbe Gesellschaft schon auf seiner Seite. Das Robin-Hood-Image, das der 17N lange kultivieren konnte, spiegelt das Verhältnis der Griechen nicht zu ihren Terroristen, sondern zu ihrer Obrigkeit. Schadenfreude auf Kosten des Staates kam auch im Februar 1990 auf, als ein 17N-Kommando am helllichten Tag aus dem Athener Kriegsmuseum zwei Bazooka-Werfer entwendete. Als kurz darauf die ersten 45-mm-Raketen auf Ziele mitten in Athen abgefeuert wurden, wurde der Spaß jedoch zum blutigen Ernst.

Das Gros der öffentlichen und heimlichen Sympathien hatte der 17N allerdings bereits am 26. September 1989 verspielt. Der Mord an dem konservativen Politiker Pavlos Bakojannis, der sich im Widerstand gegen die Junta engagiert hatte, machte die Berufung auf den 17. November 1973 vollends zum Etikettenschwindel. Auch im außerparlamentarischen Spektrum hatten die Terroristen damit ihren Kredit verspielt.

Doch die Polizei tappte weiterhin im Dunkeln. Auch nach 1989 schaffte es keine Regierung – ob linke Pasok oder rechte Nea Dimokratia –, die EL.AS. auf Trab zu bringen. Daran änderte auch die Regierung Kostas Simitis nichts, die 1996 eine „Modernisierung“ von Staat und Gesellschaft versprach. Ein „Minister für innere Sicherheit“ sagte 1998 in einem Interview: „Bei der Frage, wer diese Leute sind, sind wir leider nicht viel weitergekommen.“ Die Gruppe sei sehr klein und pflege bedauerlicherweise nach jedem Attentat für ein oder zwei Jahre abzutauchen. Man könne nur hoffen, die Terroristen würden sich bald altershalber zur Ruhe setzen.

Die Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Die Gründer des 17N hatten längst eine zweite oder dritte Generation ausgebildet. Die schlug im Juni 2000 wieder zu. Ein maskierter Motorradfahrer erschoss den Militärattaché der britischen Botschaft in seinem gepanzerten Auto. Aber der Mord an Stephen Saunders wurde zum Wendepunkt.

Simitis’ Regierung war alarmiert. Drei Jahre zuvor hatte Athen den Zuschlag für die Olympischen Spiele 2004 bekommen. Seitdem drohten Politiker und Experten der USA, wer sich von einheimischen Terroristen jahrzehntelang auf der Nase herumtanzen lasse, könne kein Großereignis veranstalten, das Terroristen aller Länder und Konfessionen anziehe. Ein ehemaliger CIA-Chef sagte wörtlich: „Wissen wir denn, ob auf die Athleten, die 2004 auf dem Athener Flughafen ankommen, nicht ein Empfangskomitee des 17. November wartet?“

Seit dem Mord an Saunders ging es für Athen und Griechenland also ums Ganze. Der neue Polizeiminister, Michalis Chrysochoidis, gründete eine Antiterrorabteilung, die sich nicht mehr zierte, mit ausländischen Spezialisten zu kooperieren. Seitdem ließ die Regierung immer wieder verlauten, das Ende des 17N sei nur eine Frage der Zeit.

Dass es jetzt so schnell kam, ist einem Zufall zu verdanken. Am 26. Juni explodierte am Hafen von Piräus eine Bombe in den Händen des Ikonenmalers Savvas Xiros. Die erste schwere Panne der Terroristen kompensierte mit einem Schlag die Pannenserie der Verfolgungsorgane. Inzwischen hat die Polizei drei Verstecke des 17N mit dessen Waffenarsenal entdeckt. Xiros legte ein umfassendes Geständnis ab.

Seitdem wurden vierzehn Personen verhaftet, darunter zwei Brüder von Xiros. Damit gaben die „Revolutionäre“ ein weiteres Geheimnis preis: Sie rekrutierten sich über die Familienbande. Für griechische Verhältnisse keine Überraschung. Warum sollte es im Untergrund anders funktionieren als in politischen Parteien und Wirtschaft? Die Verhafteten, von denen nur Jotopoulos kein Geständnis abgelegt hat, wurden inzwischen ins Korydallosgefängnis verlegt.

Es ist dasselbe Gefängnis, in dem die Juntafolterer ihre Opfer quälten. Damit sitzen die Genossen am selben Ort wie der letzte Juntahäftling Ioannides, der das Massaker vom 17. November 1973 befohlen hatte.

NIELS KADRITZKE, Jahrgang 1943, Mitglied der deutschen Redaktion von Le Monde diplomatique , lebt in Berlin