Alice Neel-Ausstellung in Hamburg: Bilder von Freunden

Sechs Jahrzehnte lang hat sie gemalt: auf Kuba, in Spanish Harlem und in Greenwich Village. Jetzt widmen die Hamburger Deichtorhallen Alice Neel eine Werkschau

Lebende, atmende Wesen: Alice Neels „Pregnant Julie and Algis“ (1967) Foto: Malcolm Varon © Estate of Alice Neel

HAMBURG taz | „Wenn Porträts gute Kunst sind, reflektieren sie die Kultur, die Zeit und noch vieles mehr.“ Alice Neel, die diese Sätze 1971 formulierte, war eine solche Malerin: Künstlerische, aber auch gesellschaftliche Veränderungen reflektieren ihre Arbeiten. In ihren Porträts werden die Umstände sichtbar, unter denen die Gemalten lebten. Die Hamburger Deichtorhallen widmen der US-amerikanischen Künstlerin nun eine ausführliche Werkschau, als letzte Station nach Helsinki, Den Haag und Arles.

Zu sehen sind Bilder aus insgesamt sechs Jahrzehnten. Neel wurde 1900 in Pennsylvania geborenen und verstarb 1984 in New York. In den frühen 20er-Jahren studierte sie an der Philadelphia Shool of Design for Women. Seit den 30er-Jahren wurden ihre Bilder immer wieder in Galerien und Museen gezeigt. 1974 widmete ihr das Whitney Museum of Modern Art die erste große Retrospektive. Neel gehört so zu den seltenen Künstlerinnen ihrer Generation – im Sinne von: Frau, die Kunst macht –, deren Werk im Kunstbetrieb auch Anerkennung erfuhr.

In ihren Bildern finden sich verschiedene, auch einander widerstrebende Stile der Malerei des 20. Jahrhunderts wieder; prägend ist die Spannung zwischen realistischer und expressiver Malerei. Das beginnt bereits mit den frühesten nun gezeigten Arbeiten, entstanden Ende der 20er-Jahre auf Kuba. Diese Bilder zeugen vom großen Interesse der bekennenden Kommunistin am Leben von Bettlern und Arbeitern. Zwar lebte sie mit ihrem Mann, dem Maler Carlos Enríquez, den sie schon während ihres Studiums in den USA kennengelernt hatte, bei dessen wohlhabender Familie. Beide unternahmen jedoch häufig Ausflüge in die Armenviertel Havannas. Dort fand Neel ihre Themen, angetrieben von einem Interesse an der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Mit groben, dunklen Strichen setzte sie auf der Leinwand eine sichtbare, äußere Realität mit einer nur erahnbaren, inneren in eins.

Ende der 20er-Jahre kehrte Neel nach Amerika zurück. Enríquez hatte sie verlassen und die gemeinsame Tochter Isabetta mitgenommen. Ein erstes gemeinsames Kind war an Diphterie gestorben. Neel litt unter dem Verlust, bekam einen Nervenzusammenbruch, unternahm einen Suizidversuch und landete in der Psychiatrie. Bilder wie „Degenerate Madonna“ (1930) nehmen Bezug auf diese Erfahrungen: Eine halbentblößte Frau ist darauf zu sehen, ein Kind auf dem Schoß. Beide sind bleich, die Mutter verschwimmt, ihre länglichen, spitzen Brüste sind verzogen. Das Kind ist in ein weißes Gewand gekleidet, der Blick ist starr, und nach hinten hin erscheint es ein weiteres Mal: undeutlich, durchscheinend, mit sich auflösenden Konturen.

Solche Allegorien waren bis Ende der 30er-Jahre aus Neels Schaffen verschwunden. Was aber blieb, war das Interesse an der Darstellung von Kindern und weiblichen Akten. In diesen Bildern zeigt sich immer wieder der Wunsch nach der Überwindung der konventionellen, von Männern dominierten Aktmalerei. Schönheitsideale spielen keine Rolle, weder wählt Neel danach ihre Modelle aus noch zielt sie auf eine harmonische, erotische Darstellung des Weiblichen ab. Neben den Körpern ihrer Modelle entblößt sie deren Persönlichkeit: In den Gesichtern und Körpern legt sie die Anstrengungen, Gefühle und Sorgen offen. In Neels Bildern seien Frauen lebende, atmende Wesen, so Kurator Jeremy Lewison im Katalog.

Nachdem Neel 1932 nach New York gezogen war, ins Greenwich Village, begann sie die Menschen in ihrem Umfeld zu malen: Nachbarn und Freunde, Künstler und Politaktivisten. Eine ganze Szene porträtierte sie so. Am Ende ihres Lebens hatte sie dann sogar einen Querschnitt der amerikanischen Gesellschaft insgesamt dokumentiert. Aus ihrer Zeit im Village stammen Bilder des Schriftstellers Max White sowie von Gerhard Yensch, einem Deutschen: Frei von jedem Expressionismus, malte Neel die Männer auf eine sehr kühle Art, die fast an Fotografie erinnert. Die Gesichter wirken massiv, die Augen abwehrend.

Aus einem sozialromantischen Impuls heraus zog sie 1938 nach Spanish Harlem: um Abstand zu gewinnen von der Bohème, um wieder unter einfachen Menschen zu sein, wie sie selbst sagte. Sie malte enge Hinterhöfe und Feuerleitern, und die Menschen waren nun Einwanderer aus Lateinamerika sowie die Afroamerikaner, die zu dieser Zeit die Mehrheit bildeten. Neel engagierte sich in der Arbeiterbewegung, sie malte für das kommunistische Magazin Masses and Mainstream und begann eine Beziehung mit dem linken Filmemacher und Fotografen Sam Brody.

Gerade die engagierte Porträtfotografie oder -malerei birgt die Gefahr der Typisierung mit sich, und wer sie betreibt, benimmt sich oftmals wie ein Ethnologe. Umso bemerkenswerter, dass die Personen bei Neel Personen bleiben und gerade nicht zu Typen verkommen. Sie malt keine kommunistischen Autoren, Wachmänner oder Mörder – sie malt Hubert Satterfield, Randall Bailley und Georgie Arce. Deren Eigenschaften sind gleichwohl enthalten, in Neels Strichführung und Flächengestaltung. Diese psychologische Ebene wird durch die Beziehung erst möglich: Die Gemalten sind erst in zweiter Linie Neels Modelle, erst mal sind sie ihre Freunde. Dieser Umstand verhindert – oder erschwert zumindest – eine Objektivierung, auf dem Bild ist stets ein bestimmter jemand zu sehen.

In den 70er-Jahren war Neel, längst eine gestandene, alte Frau, dann die Chronistin der Upper-West-Side-Szene: Sie malte die Künstler aus Andy Warhols Umfeld, den Autor Jackie Curtis oder den Tänzer Gerald Malanga. Auch Warhol selbst saß 1970 für sie Porträt. Den Blick der Malerin nur leidlich ertragend, mit gesunkenem Blick, hängenden Brüsten über den Narben des Attentates durch die Feministin Valerie Solanas. Auch hier zeigt Neel nicht bloß den coolen, angeschossenen Künstler, wie man ihn etwa von Richard Avedons Fotos kennt. Bei ihr drücken Warhols Gesicht und Körper, vor allem die rötlich und grünlich schimmernde Haut Schmerz aus und Unbehagen. Selbst aus dieser Verkörperung des Artifiziellen macht Neels Malerei mehr als nur ein Bild – eine Person. Einen Freund.

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