Aktivisten vor dem Reichstag: Polizei bekämpft Lagerbildung

Die Polizei geht rigoros gegen Zelten als Protestform vor. Das ist unzeitgemäß, sagt ein Anwalt und beruft sich auf das Verfassungsgericht.

Standmuscheln vor dem Reichstag - für die Polizei ein Problem. Bild: dapd, Axel Schmidt

Wer die Straßen vor Banken, Regierungssitzen und Börsen besetzen will, der kann am Abend nicht nach Hause gehen. Deshalb gehört das Zelt zu diesen Protesten dazu wie der Ruf nach mehr Demokratie. Doch ausgerechnet in der Hauptstadt hat die Polizei was gegen Camping als Protestform. "Ein Zelt dient nicht der freien Meinungsäußerung", heißt es von der Behörde. Das sei ein längst überholtes Verständnis von Demonstrationen, sagt dagegen der Versammlungsrechtsexperte Sven Richwin.

Inspiriert von den Madrider Protesten und der Occupy-Wallstreet-Bewegung in New York waren am Samstag in Berlin und anderen deutschen Städten Zehntausende auf die Straße gegangen. Im Berlin zog die Menge bis zur Reichstagswiese. Die liegt in der "befriedeten Zone" um den Bundestag, das Versammlungsrecht ist hier eingeschränkt. Doch auch an anderer Stelle hätten die Demonstrierenden es mit Zelt-Protesten schwer gehabt. Schon die Acampada-Bewegung, die sich im August auf dem Alex um ein Protestcamp mühte, musste erfahren, dass die Polizei an dieser Stelle nicht mit sich reden lässt: Mit zum Teil rüden Methoden wurden Zelte konfisziert und Protestierer festgenommen.

Am Montagnachmittag haben sich auf der Wiese vor dem Reichstagsgebäude wieder rund 150 Angehörige der "Occupy Berlin"-Bewegung versammelt. Die in Alter und Kleidungsstil gemischte Gruppe diskutiert das Vorgehen und die Perspektiven ihrer Bewegung. Ein Konsens bildet sich nicht heraus. Für Florian (29), der seit Beginn der Proteste in Spanien als Beobachter und Blogger dabei ist, stellt das kein Problem dar: Es gehe nicht nur um politische Ziele, sondern um ein neues gesellschaftliches Miteinander.

Auf der Reichstagswiese äußert sich das im Rederecht für alle (s. Text rechts). Dementsprechend unterschiedlich fallen die Beiträge aus: Während einige einen Systemumsturz der herrschenden Tyrannei bzw. Finanzoligarchie fordern, kümmern sich andere um praktische Aspekte wie die Einrichtung von Blogs. In einem sind sich alle einig: Die Bewegung brauche keine Vertreter und keine Kerngruppe, die Entscheidungen für die Gesamtheit treffen. Man repräsentiere 99 Prozent der Weltbevölkerung, so ein englischsprachiger Teilnehmer - da könnten nicht Einzelne für alle bestimmen.

So bleibt es, wie Florian sagt, vorerst bei "dezentraler und hierarchiefreier Kommunikation und Vernetzung". Über Blogs und Facebookgruppen könne jeder an der Debatte teilnehmen und deren Ausrichtung bestimmen. Auch die weiteren Treffen sollen per Internet organisiert werden. Eile, Entscheidungen zu treffen, haben die Beteiligten nicht. Zunächst einmal, schlagen einige vor, könne versucht werden, neue Leute zu werben und zumindest ein paar gemeinsame Forderungen aufzustellen. In den nächsten Wochen sollen sich dazu Interessierte jeden Tag um 15 Uhr auf der Wiese vor dem Reichstag zusammenfinden und diskutieren.

Ob das Konzept auch funktioniere, wenn nicht jeden Tag die Sonne scheint? Ja, glaubt Florian: Längst sei der Prozess nicht mehr aufzuhalten. Wenn zu den Diskussionsrunden auf der Wiese keiner mehr komme, werde das Geschehen eben wieder wie vorher ins Internet verlegt. Das Entscheidende an der Bewegung, sagt er, seien ja nicht konkrete Ergebnisse sondern die Debatte selbst - der "kollektive Bewusstseinswandel". MARLEN KESS

Denn - so die Argumentation der Polizei - wer schläft, könne nicht demonstrieren. Campingartikel hätten auch keinen Themenbezug zur Demonstration und fallen deshalb nicht unter das Versammlungsrecht. In keinem einzigen Fall sei daher ein Zeltcamp von der Versammlungsbehörde genehmigt worden. Wer trotzdem Zelte auf einer Kundgebung aufstellen wolle, der müsse dies als Sondernutzung beim Straßen- und Grünflächenamt beantragen - und Geld dafür bezahlen.

Als rückständig verurteilt Richwin den Standpunkt der Berliner Polizei und beruft sich auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom März. Der Versammlungsschutz "ist nicht auf Veranstaltungen beschränkt, auf denen argumentiert und gestritten wird, sondern umfasst vielfältige Formen gemeinsamen Verhaltens bis hin zu nicht verbalen Ausdrucksformen", so das Gericht. Schon durch die bloße Anwesenheit, die Art des Auftretens oder die Wahl des Ortes könnten die Teilnehmenden Stellung nehmen. Laut Richwin muss daher gerade das Campieren als zeitgemäße Protestform unter das Versammlungsrecht fallen.

In anderen Städten ist man mit der Auslegung offensichtlich weiter als in Berlin: Vor der Europäischen Zentralbank in Frankfurt am Main und der HSH Nordbank in Hamburg empören sich Zeltprotestler auch noch im Schlaf. Für Berlin setzt Richwin auf einen Gerichtsprozess im November, bei dem er eine kurdische Aktivistin vertritt. Dabei soll es auch darum gehen, ob und in welcher Größe Zelte von der Versammlungsbehörde genehmigt werden müssten.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.