Aktivist über den NSU und Berlin: „Wir wollen Ergebnisse sehen“

Das Netzwerk des NSU führt auch in die Hauptstadt. Das Bündnis „Kein Schlussstrich“ fordert Aufklärung und demonstriert zur Urteilsverkündung.

Bild an einer Hauswand mit der Frage: Wo bleiben die Konsequenzen?

Konsequenzen unbekannt: Die Aktivist*innen wollen, dass man den Verfassungsschutz auflöst Foto: dpa

taz: Herr Seedorf, fünf Jahre NSU-Prozess in München gehen am Mittwoch mit der Urteilsverkündung zu Ende. Wieso sollte man zu diesem Anlass auf die Straße gehen?

Rob Seedorf: Es wird zwar das Urteil gegen Beate Zschäpe und die Mitangeklagten gefällt, aber der Prozess hat deutlich gezeigt, dass das nicht ausreicht. All die Vertuschungsaktionen nicht nur vom Verfassungsschutz haben deutlich gemacht, dass der NSU eben nicht nur ein „isoliertes Trio“ mit wenigen Unterstützern war, wie es die Bundesanwaltschaft bis heute darstellt, sondern eine große neonazistische Organisation mit staatlicher Unterstützung. Die Gruppe konnte auf den gesellschaftlich vorhandenen Rassismus zurückgreifen. Es darf nicht einfach eine Schuldige und damit einen Schlussstrich geben. Für uns ist das Ende des Prozesses erst der Anfang der Arbeit.

Was soll noch geschehen?

Wir wollen, dass es Folgen gibt. Aber anstatt etwa die Strukturen bei Polizei und Verfassungsschutz zu ändern, wie es auch der NSU-Untersuchungsausschuss im Bundestag gefordert hat, passiert das Gegenteil: Die Verfassungsschutzämter sind besser finanziert denn je, das V-Mann-Wesen existiert ungehindert fort, und spätestens seit dem G20-Gipfel wissen wir, wie die neuen Vorstellungen von Polizeiarbeit sind. Bei einer durch Geheimdienste mitaufgebauten Nazi-Terror-Gruppe müssen wir von einer Staatskrise sprechen. Doch personelle Folgen gab es kaum. Trotz des Aufklärungsversprechens der Bundeskanzlerin wurde der Prozess offen sabotiert, wenn wir nur an all die geschredderten Akten denken.

ist Softwareentwickler und Sprecher der antirassistischen Kampagne "Irgendwo in Deutschland" sowie Mitorganisator der Berliner Demo "Kein Schlussstrich".

Was hat der NSU-Komplex mit Berlin zu tun?

Es gibt Verwicklungen staatlicher Behörden in Berlin mit den NSU-Komplex, vor allem durch V-Personen des Berliner Landeskriminalamts. Viel deutet darauf hin, dass der NSU mit Sprengstoff, Geld und Informationen aus Berlin unterstützt wurde, durch Nazis, die eigentlich die Szene ausspionieren sollten. Vermutlich wurden auch Ziele in Berlin ausgespäht: Ein Wachmann der Synagoge in der Rykestraße hat im Jahr 2000 Zschäpe, Uwe Mundlos und Jan Werner, dem sächsischen „Blood & Honour“-Sektionschef, dort gesehen. Zschä­pe hat im Prozess eingeräumt, in Berlin gewesen zu sein, will aber nur das KaDeWe besucht haben. Auf einer Liste mit möglichen Anschlagszielen findet sich zudem der jüdische Friedhof in der Heerstraße, auf den es 1998 und 2002 drei Sprengstoffattentate gab, die bis heute nicht aufgeklärt sind. In der Anfangszeit operierte der NSU viel mit Sprengstoff. Dieser Spur wird aber nicht nachgegangen.

Welche personellen Verknüpfungen nach Berlin sind bekannt?

„Der Staat sorgt nicht von allein für Aufklärung im NSU-Komplex“

Thomas Starke, Zschäpes Ex-Freund, wurde seit 2000 vom Berliner LKA als V-Mann geführt. Bevor er Spitzel wurde, hat er den Sprengstoff für den NSU besorgt, der dann in der Garage in Zwickau gefunden wurde. Auch half er dem Trio beim Untertauchen. Stephan Lange, Ex-„Blood & Honour“-Chef und ebenfalls ganz nah am NSU-Trio, wurde durch das LKA Berlin als V-Mann an den Verfassungsschutz vermittelt. Und da ist der erwähnte Jan Werner, der versuchte, Waffen zu organisieren. 1998 schrieb er eine SMS: „Hallo, was ist mit dem Bums?“ Dem Empfänger, dem Brandenburger V-Mann Carsten Szczepanski, wurde unmittelbar danach durch den Brandenburger Verfassungsschutz das Telefon entzogen und ersetzt. Im Ergebnis sind 114 SMS von Werner verschollen. Zwischen 2001 und 2005 soll Werner auch mit dem LKA Berlin zusammengearbeitet haben. All das ist aufklärungsbedüftig.

Die Behörden in Berlin haben versagt?

Urteil Nach einem mehr als fünfjährigen Prozess werden am Mittwoch vor dem Oberlandesgericht München die Urteile gegen die mutmaßliche Rechtsterroristin Beate Zschäpe und vier Mitangeklagte verkündet.

Proteste Unter dem Motto „Kein Schlussstrich“ wollen Menschen in München und mehr als einem Dutzend anderer deutscher Städte auf die Straße gehen. Die Berliner Demo beginnt 17 Uhr am Platz der Luftbrücke und führt zum Hermannplatz. (taz)

Es ist eine Behördenkrise, kein Versagen einzelner. Welche der Probleme auf institutionalisierten Rassismus, auf schlechte Absprachen zwischen den Ämtern oder durch die Doktrin des Quellenschutzes zurückzuführen sind, muss im Einzelfall herausgefunden werden.

In einem Berliner NSU-Untersuchungsausschuss?

Wir haben kein utopische Hoffnung an einen solchen Ausschuss. Aber wir haben in anderen Ländern gesehen, dass kritische Abgeordnete mit den richtigen Fragen Spitzen der Eisberge aufdecken können. Dann können Initiativen und JournalistInnen einhaken und weitergraben. So sind die meisten Erkenntnisse über den NSU herausgearbeitet worden. Aufklärung ist hier ein gesellschaftliches Projekt, und nichts, wofür der Staat von ganz alleine sorgt. Deswegen fordern wir auch einen internationalen Untersuchungsausschuss.

Wird sich Rot-Rot-Grün auf einen Untersuchungsausschuss einlassen?

Ich weiß es nicht. Die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN-BdA) hat eine Petition mit dem Titel „Besser spät als nie“ eingereicht. Das zeugt schon davon, dass man nicht glaubt, dass so ein Ausschuss von selbst und ohne Druck zustande kommt.

Berlin will zukünftig den Verfassungsschutz mit einer Arbeitsgruppe kontrollieren und setzt damit eine Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses des Bundestags um. Ist das ein gutes Zeichen?

Das ist zwar schön zu hören, aber da wollen wir erst mal Ergebnisse sehen. Dass der Berliner VS-Chef Bernd Palenda daraufhin um Versetzung gebeten hat, lässt auch tief blicken. Eine sinnvollere Folge als eine bessere Kontrolle wäre es, den Verfassungsschutz ganz aufzulösen.

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Rechtsextreme Terroranschläge haben Tradition in Deutschland.

■ Beim Oktoberfest-Attentat im Jahr 1980 starben 13 Menschen in München.

■ Der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) um Beate Zschäpe verübte bis 2011 zehn Morde und drei Anschläge.

■ Als Rechtsterroristen verurteilt wurde zuletzt die sächsische „Gruppe Freital“, ebenso die „Oldschool Society“ und die Gruppe „Revolution Chemnitz“.

■ Gegen den Bundeswehrsoldaten Franco A. wird wegen Rechtsterrorverdachts ermittelt.

■ Ein Attentäter erschoss in München im Jahr 2016 auch aus rassistischen Gründen neun Menschen.

■ Der CDU-Politiker Walter Lübcke wurde 2019 getötet. Der Rechtsextremist Stephan Ernst gilt als dringend tatverdächtig.

■ In die Synagoge in Halle versuchte Stephan B. am 9. Oktober 2019 zu stürmen und ermordete zwei Menschen.

■ In Hanau erschoss ein Mann am 19. Februar 2020 in Shisha-Bars neun Menschen und dann seine Mutter und sich selbst. Er hinterließ rassistische Pamphlete.

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