85. Geburtstag von Imre Kertesz: Auschwitz, immer wieder Auschwitz

Mit Kritik am ungarischen Nationalismus sparte Imre Kertesz nicht. Zuletzt verlieh die rechte Regierung dem Nobelpreisträger den höchsten Orden.

Imre Kertesz (Archivbild aus dem Jahr 2010). Bild: dpa

BUDAPEST dpa | „Auch wenn ich von etwas ganz anderem spreche, spreche ich von Auschwitz. Ich bin ein Medium des Geistes von Auschwitz, Auschwitz spricht aus mir“, notierte Imre Kertesz in seinem „Galeerentagebuch“. Der 2002 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnete Schriftsteller überlebte als Jugendlicher das nationalsozialistische Vernichtungslager. Die existenziellen Erfahrungen des Überlebenden ließ er in eine Prosa einfließen, die nicht auf Betroffenheit abzielt, sondern die Mechanismen der menschgemachten Todesmaschinerie und die Sprache des Totalitarismus freilegt.

Kertesz, der am 9. November 1929 geboren wurde, wuchs in einer Budapester jüdischen Familie auf. 1944 wurde er nach Auschwitz und Buchenwald deportiert und bei Kriegsende aus dem KZ befreit. In den Jahrzehnten, die folgten, schlug er sich als Redakteur, Autor von Unterhaltungsstücken fürs Theater und Übersetzer der Werke von Nietzsche und Wittgenstein durch. Doch die Erfahrungen der Shoah ließen ihn nicht mehr los. Von 1960 bis 1973 arbeitete er unentwegt und besessen an seinem Hauptwerk, dem „Roman eines Schicksallosen“.

Das Opus Magnum zeichnet den Lebensweg eines 15-Jährigen durch die deutschen Konzentrationslager nach. So sehr hat dieser die „Ordnung“ des Lagers verinnerlicht, dass er sogar „Glück“ zu empfinden vermag. „Mit diesem Roman habe ich kein Anliegen an die Gesellschaft gestellt, sondern geschildert, wie der Holocaust erlebt wurde“, erklärte Kertesz 2005 in einem dpa-Interview. Der Roman sei so aufgebaut, dass „am Ende nicht der Junge sein Leid beklagt, sondern der Leser diese Last zu tragen hat“.

In Ungarn rührte die Thematisierung der Ausrottung von fast 600 000 ungarischen Juden an ein Tabu. Ihre Verschleppung in die deutschen Vernichtungslager hatte Hitler-Deutschland angeordnet, vollstreckt wurde sie von den willfährigen ungarischen Behörden. Im nachfolgenden Kommunismus war wiederum eine offene Vergangenheitsdiskussion nicht möglich. So kam es, dass Kertesz erst 1996, als der „Roman eines Schicksallosen“ in einer autorisierten deutschen Übersetzung erschien, auf internationale Beachtung stieß – und damit für Furore sorgte.

„Ich wurde eine Aktiengesellschaft, eine Marke“

Das Verhältnis zu seiner Heimat Ungarn gestaltete sich aber auch nach der Wende schwierig. Der erstarkende Nationalismus und Antisemitismus erfüllten ihn mit Sorge. Die Aufarbeitung des Holocaust blieb aus, Verdrängung wurde vor allem unter den rechten Regierungen zur Staatsraison. Als Kertesz als erster Ungar überhaupt den Literaturnobelpreis erhielt, äußerten sich Berichte im staatlichen Rundfunk abschätzig. Für viele Rechte war Kertesz wegen seiner Kritik an den ungarischen Zuständen ein „Nestbeschmutzer“.

Das Preisgeld des Nobelpreises ermöglichte es ihm, dem Kenner und Liebhaber der deutschen Kultur, sich in Berlin niederzulassen. Zugleich machten ihm die Etikettierungen, die mit dem hohen Preis notgedrungen einhergingen, zu schaffen. Diese „Glückskatastrophe“ habe aus ihm einen „Holocaust-Clown“ gemacht, haderte er im Tagebuch-Band „Letzte Einkehr“ (2013). „Ich wurde eine Aktiengesellschaft, eine Marke. Die Marke Kertesz“, schob er im Zeit-Interview mit Iris Radisch nach.

Schon seit vielen Jahren leidet Kertesz an der Parkinson-Krankheit, die ihm Leben und Arbeiten zunehmend erschwert. Ende 2012 zog er von Berlin wieder nach Budapest zurück, weil er sich – wie er es in Ungarn darstellte – die hohen Behandlungskosten in Deutschland nicht mehr leisten konnte.

Verfechter kompromissloser persönlicher Autonomie

In Budapest regiert seit 2010 der rechts-konservative Ministerpräsident Viktor Orban. Die Holocaust-Verdrängung erlebt neue Blüten. Antisemitische und rechts-radikale Autoren der Zwischenkriegszeit sind inzwischen Schullektüre. Ein neues Denkmal im Zentrum von Budapest stellt Ungarn als unschuldiges Opfer einer deutschen Besatzung dar. Erneut wird die Komplizenrolle des damaligen ungarischen Staates beim ungarischen Holocaust verleugnet.

Kertesz, der schwer kranke Rückkehrer aus dem Berliner Exil, scheint aber inzwischen seinen kleinen, privaten Frieden mit seinem Herkunftsland geschlossen zu haben. Im vergangenen August nahm er den sogenannten Stephansorden an, eine Ehrung aus der Zeit des rechts-autoritären Herrschers Miklos Horthy, unter dem Kertesz und die anderen ungarischen Juden nach Auschwitz deportiert wurden, und der von Orban erst vor zwei Jahren als höchste staatliche Auszeichnung reaktiviert wurde.

Viele Kertesz-Fans in Ungarn waren bestürzt, dass sich der intellektuell unbestechliche Schriftsteller zur Legitimierung des aus ihrer Sicht undemokratischen, Holocaust-verharmlosenden Orban-Kurses hergab. Andere verteidigten ihn damit, dass der Verfechter kompromissloser persönlicher Autonomie auch in dieser Frage – kompromisslos autonom gehandelt habe.

Kertesz' eigene Begründung für die Annahme des Preise klang eher beleidigt. „Ich bin ungarischer Staatsbürger, und der ungarische Staatspräsident hat ihn mir angeboten“, sagte er im Interview mit dem oppositionellen ungarischen Star-Moderator Sandor Friderikusz. „Viele wollten es mir ausreden, als wäre es quasi ein Verbrechen gewesen. Mögen sie zum Teufel gehen, so ein Unsinn!“

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.