50 Jahre Gesamtschule in Hamburg: „Die FDP war die treibende Kraft“

Ulrich Vieluf, Schulforscher und ehemaliger Staatsrat der Schulbehörde, über die Gründung der Gesamtschule in Hamburg.

Hier fing alles an: Die Gesamtschule Alter Teichweg in Dulsberg Foto: Ajepbah/Wikimedia Commons

taz: Herr Vieluf, Hamburgs älteste Gesamtschule wird 50. Nun lädt Sie die Linke heute zum Festvortrag ein. Gibt es kein Fest des Senats?

Ulrich Vieluf: Das entzieht sich meiner Kenntnis.

Wie kam es dazu, dass 1968 aus der Volksschule Alter Teichweg eine integrierte Gesamtschule wurde?

Es gab dort Lehrer und Eltern, die sich für die Gesamtschulidee begeisterten, viel lief über Mundpropaganda. Politisch war damals die FDP die treibende Kraft.

Die liberale FDP? Nicht die Arbeiterpartei SPD?

Auch in der SPD gab es viele Befürworter der Gesamtschul­idee. Aber auf der politischen Handlungsebene, wo die SPD 1967 die Alleinregierung stellte, war sie zunächst zögerlich. Die FDP stellte aus der Opposition heraus einen Antrag für einen Schulversuch zur Einführung der integrierten Gesamtschule. Hintergrund waren unter anderem die zu geringe Bildungsbeteiligung und die Chancenungleichheit in Deutschland.

War die damals schlimmer als heute?

Der Pädagoge Georg Picht hatte in seinen Thesen 1964 sogar von einem „Bildungsnotstand“ gesprochen, weil in Deutschland die Investitionen in Bildung im internationalen Vergleich viel zu gering waren und Deutschland den Anschluss zu verlieren drohte. Die Gesamtschule, die die Bildungswege für jeden offenhält, galt als ein Weg zu mehr Chancengerechtigkeit und höherer Bildung. Auch damals war bekannt, dass man nicht schon im Alter von zehn Jahren bei Kindern mit Sicherheit vorhersagen kann, wie sie sich entwickeln werden.

62, ist ehemaliger Staatsrat der Schulbehörde und lebt heute als Schulforscher bei Hamburg.

Welche Bedenken hatten denn die Genossen?

Die Reform schien überstürzt. Man wollte zur Klärung etlicher konzeptioneller Fragen zunächst im kleinen Maßstab Erfahrungen sammeln.

Und wie kam dieser neue Schultyp an?

Es herrschte eine Aufbruchstimmung. Es kamen junge Kollegen in die Schulen, die ein Verständnis von Bildung mitbrachten, das Begabung nicht als genetisch entschieden, sondern als pädagogisch entwickelbar ansah. Lehrkräfte und Eltern haben aktiv geworben und andere Eltern und Kollegen für die Idee gewinnen können. So waren es in dieser ersten Phase acht integrierte und eine kooperative Gesamtschule, die schließlich an dem Schulversuch teilnahmen.

Was waren die Kinderkrankheiten?

Die Pioniere arbeiteten unter Bedingungen, unter denen man heute keinen Schulversuch mehr durchführen würde. Kaum etwas war fertig, alles musste unterrichtsbegleitend erst entwickelt werden.

Was fehlte denn?

Es mussten die Curricula entwickelt werden. Es fehlte an Materialien für die Kursdifferenzierung. Die Lehrer waren ja noch für den Frontalunterricht in vermeintlich homogenen Gruppen ausgebildet worden. Es wurden neue Fächer etabliert, wie beispielsweise Arbeitslehre. Man brauchte diagnostische Verfahren, um die Schüler in ihrer Entwicklung einzuschätzen. Das war nicht nur in Hamburg so, bundesweit standen die Gesamtschulen vor aufwändigen Entwicklungsaufgaben.

Und was war nach zehn Jahren?

1979 wurde der Schulversuch beendet, die Gesamtschule wurde zur Regelschule. In den Schulversuchsjahren hatte sich erwiesen: Die Idee der Gesamtschule funktioniert. Dies führte zu einer Präambel im Schulgesetz, in der es unter anderem hieß: „Die Schule soll in Richtung auf ein integriertes System fortentwickelt werden.“ Der Gesetzgeber knüpfte dies aber an den Elternwillen, was hoch umstritten war. Der damalige Schulsenator Joist Grolle verteidigte diese Kopplung: Nicht Notendurchschnitte würden letztlich über die Zukunft der Gesamtschule entscheiden, sondern, ich zitiere, „die Frage, ob sie die menschlichere Schule ist“.

„50 Jahre Gesamtschule in Hamburg“, 18. September 2018, Altonaer Museum, 19 Uhr

Seither dürfen die Eltern entscheiden, auf welche Schule sie ihre Kinder schicken?

Ja. Und es gab eine hohe Akzeptanz der neuen Schulform. So kam es nach der gesetzlichen Einführung des Elternwahlrechts in den Folgejahren zu einer Gründungswelle von 15 weiteren Gesamtschulen. 25 Jahre nach dem Start der ersten Gesamtschule betrug die Anmeldequote der Fünftklässler für diese Schulform etwa 30 Prozent des Jahrgangs. Gleichwohl hielten – und halten bis heute – Kritiker dagegen: Der Staat kneife. Er habe das Ziel eines integrierten Schulsystems aufgegeben und etabliere die Gesamtschule als Schulform neben dem gegliederten System.

War die Gesamtschule erfolgreich?

Sie trug entscheidend zu höherer Bildungsbeteiligung und mehr Bildungsgerechtigkeit bei. Und wie wir aus unseren Schulstudien wissen, hat sie das durch erfolgreiche Förderung der Lernpotenziale ihrer Schülerinnen und Schüler erreichen können.

Welche Lehren ziehen Sie für die Gegenwart?

Der grundlegende Konflikt besteht im heutigen Zwei-Säulen-System fort. Es gibt keine Haupt- und Realschulen mehr, Gesamtschulen heißen heute Stadtteilschulen. Diese Säule darf aber nicht als Reparaturbetrieb der anderen Säule, des Gymnasiums, fungieren. De facto aber wechseln jährlich rund 1.600 Schüler aus dem Gymnasium auf eine Stadtteilschule. Hinzu kommt, dass die Stadtteilschule sowohl die Inklusion als auch die Integration von Geflüchteten in großen Teilen bewältigen muss. Das ist kein kluges Modell für die Zukunft.

Aber das Thema gilt als verkämpft. Seit dem verlorenen Primarschul-Volksentscheid von 2010 trauen sich nicht mal die Grünen, die Struktur anzufassen.

Beim Volksentscheid haben nicht die Eltern entschieden. Mag sein, dass der Staat hier an Grenzen stößt und politisch zurzeit nichts anderes durchsetzbar ist. Aber aus pädagogischer Sicht kann man den Gedanken an eine inklusive Schule, eine Schule, die allen gleichermaßen gerecht wird, nicht aufgeben.

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