Unter der Alu-Käseglocke: Herzstillstand in den Tropen
Ein Kurztripp nach Bali, Borneo, Samoa, Thailand
Im Paradies ist kein Bett mehr für mich frei. Brandenburg hat Schulferien. Frau Kasischke war schlauer. Sie hat eine Hütte über dem Wasserfall gebucht. "In die Südsee kommt man nicht alle Tage." Die 42-Jährige mit den blond gefärbten Haaren lacht. "Wer ficken will, muss freundlich sein" steht auf ihrem T-Shirt geschrieben. Ich bin freundlich zu Frau Kasischke. Allerdings nicht weil ich Beischlaf will, sondern weil uns das Schicksal verbandelt hat. Wir verbringen die Nacht gemeinsam auf einer einsamen Insel. Wo wir sind, ist die Luft heiß, das Wasser türkis, der Sand weiß: Tropical Islands!
Okay, gut: Das Paradies hat auch Schattenseiten. Frau Kasischke hat sich mich nicht ausgesucht. Ich sie mir auch nicht. Wir können nicht an die frische Luft. Wir sitzen fest. Unter einer riesigen Käseglocke aus Alu und Stahl. Sechzig Kilometer südlich von Berlin ragt sie auf einem ehemaligen sowjetischen Militärflughafen aus der Heide. 360 Meter lang ist die Halle, 107 Meter hoch und 210 Meter breit. Ursprünglich wollte die Firma Cargolifter hier Zeppeline verschrauben. Den Petersdom könnte man hier unterstellen, den Eiffelturm, die Freiheitsstatue von New York. Ehrlich gesagt: Deren Gesellschaft wäre mir eigentlich lieber. Ich bin umzingelt von lauten Wellnessern in In-door-Grillpartylaune. Bloß kein Spielverderber sein. Im letzten Licht des Tages ziehe ich in der Südsee meine Kreise. Ich kraule rückwärts. Irgendwo da hinten muss der Horizont sein. Auf ein langes Stück Sperrholz ist er gemalt. Bis dahin habe ich bestimmt noch zehn Meter zu kraulen!
Frau Kasischke hängt indes in 55 Meter Höhe unter der Decke der Halle: "Island-Ballooning". Ich höre sie prusten, rufen, gackern. Von unten sehe ich nur ihre Füße. An den Seiten des Schalensitzes schauen sie heraus. Von der Südsee aus betrachtet sieht Frau Kasischke wie ein fliegendes Brathähnchen aus.
Ich kriege Hunger. Also in den Food-Corner, wo das Essen so teuer ist, dass man einen Koi-Karpfen aus dem Becken fischen möchte. In-den-Tropen-jage-ich-mein-Essen-gern-höchstselber. "Ein Brötchen bitte", sage ich stattdessen. "Ham wa nich, bei uns heißt das Schrippe, kapiert?"
Kapiert. Das Paradies ist kein Ort für zarte Gemüter. Plötzlich ein Pfeifen im Unterholz, laut wie eine Bataillon Teekessel. Der Haustechniker stürmt herbei: Die Zikaden-CD hängt.
Aus dem Dunst der Inipi-Kräuterschwitzhütte spricht Dieter zu mir, sein Gesicht unter dem akkurat getrimmten Haarkranz ist hochrot. Er atmet Dampf. Dieter ist Bestatter aus Frankfurt (Oder). Seit er die Särge auf der polnischen Seite, in Slubice, bauen lässt, brummt das Geschäft, versichert er mir. Ich kriege Nachhilfe zum sensiblen Thema EU-Osterweiterung und Intimrasur. "Mit so einem Busch lassen dich noch nicht mal die Miezen aus Rumänien ran!", sagt Dieter. Danke für den Hinweis. Ich will hier raus!
0:38 Uhr, der letzte Bus zum Bahnhof fährt ab. Ich stehe am Fenster. Oh, Fahrt einer herrlichen, leuchtenden Raupe! Vorbei am Parkplatz. Vorbei an den Wohnwagen neben der Halle. Vorbei an den dunklen Hangars. Vorbei, vorbei, vorbei. Bis zum Bahnhof Brand. Ihr dürft nach Hause. Ich muss hier bleiben.
Richtig toll wird es ja oft erst am Ende. Also zurück zur Lagune getrabt. Was ist neu? Die Brühe im Pool sprudelt jetzt grünlich, au fein! Am Beckenrand nur noch alternde Damen in weißen Gesundheitsschuhen mit Riesenbrillen, die an die Augen von Insekten unter dem Mikroskop erinnern. Keiner spricht. Kann man von Einsamkeit Magenkrebs bekommen?
Jetzt fängt auch noch der Aluhimmel an zu heulen. Innertropische Konvergenz? Nein: Kondenswasser. Es erbricht sich die Essenz eines ganzen Tages im Tropical Islands: Schweiß, Frittierfett, Zigarettenrauch, Sehnsucht, Sprachlosigkeit, Streit. Es gibt kein Entkommen. Hält man sich abseits von allen, regnen sie eben auf einen herab. Ich ziehe eine Liege unter das Dach einer Palme. Irgendwann schlafe ich dann doch ein.
Ich erwache vom Lärm eines Saugers. Die Frau im blauen Kittel gestikuliert, sie schwitzt, sie kreischt. Sie will die Südsee putzen, ich bin im Weg, die Nacht ist vorbei, ich kann raus! Als die Druckschleuse mich sanft nach draußen presst, ist es 6.52 Uhr. Die Sonne geht auf.
Der Bus fährt los. Der Blick fällt zurück auf die Halle. Im ersten Licht liegt sie wie eine gestrandete Riesenschildkröte im Schmutz der Lausitz. Allein und verletzlich und unsagbar fremd sieht sie aus. Am Ende der Straße hängt ein Schriftzug. "Auf Wiedersehen in Tropical Islands!" Ich glaub’s kaum.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Keith Kelloggs Wege aus dem Krieg
Immer für eine Überraschung gut
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Ampel-Intrige der FDP
Jetzt reicht es sogar Strack-Zimmermann
Antisemitismus in Berlin
Höchststand gemessen
Alice Weidel bei Schweizer „Weltwoche“
Kolumne zuerst!