100 Jahren ohne Politikverbot für Frauen: "Quoten sind kein Armutszeugnis"

Vor hundert Jahren fiel das Politikverbot für Frauen. Dieses Verbot hat bis heute den Ausschluss der Frauen aus der Politik vorgezeichnet, sagt Politologin Claudia von Gélieu.

Schlüsselfigur der Frauenpolitik in Deutschland: Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Louise Otto. Bild: dpa

taz: Frau von Gélieu, vor hundert Jahren endete das Politikverbot für Frauen. Hat das heute noch eine Bedeutung?

Die 47-Jährige ist Politikwissenschaftlerin und Autorin zahlreicher Bücher zur Frauengeschichte in Preußen, zuletzt erschien 2008 "Vom Politikverbot ins Kanzleramt. Ein hürdenreicher Weg für Frauen". Mit "frauentouren" bietet sie seit 1988 in Berlin Vorträge, Seminare und Führungen zur Frauengeschichte an.

Claudia von Gélieu: Ja. Als die Frauen nach sechzig Jahren Politikverbot 1908 in einige Parteien durften, war die Entwicklung der politischen Strukturen, die wir heute kennen, bereits abgeschlossen. Und sie waren von Männern nach ihren Arbeitsformen und Interessen gestaltet worden. Von Frauen wurde erwartet, dass sie sich anpassen. Wenn man heute von Politikerinnen hört, dass man mit Frauenpolitik keinen Blumentopf gewinnen kann, dann liegt das daran, dass die Interessen von Frauen eben noch nie eine Rolle spielten. Wer zu feministisch auftritt, wird in den Parteien nichts - das hat sich nicht verändert.

Das alles lasten Sie dem Politikverbot an? Wäre Politik nicht auch ohne das Verbot eine typisch männliche Beschäftigung geblieben? Auf die Idee, Frauen das Wahlrecht zu gewähren, sind andere Länder auch erst recht spät gekommen.

Ja, aber nur Deutschland hatte dieses Politikverbot. Das sehe ich als Symptom für die besondere Härte der Diskriminierung.

Warum wurde 1850 gerade den Frauen die politische Betätigung verboten?

Frauen hatten im Vormärz kräftig mitgemischt. In Berlin waren Frauen schon ein Jahr vor den Männern auf der Straße. 1847 haben sie die Scheiben des Schlosses eingeworfen und den Rücktritt des Königs gefordert. Die Herrschenden hatten Angst davor, dass sich Frauen und untere Schichten zusammenschließen.

Louise Otto gründete 1849 eine Frauenzeitung. Was war der Beweggrund, sich politisch zu äußern?

Für Louise Otto war es selbstverständlich, dass Frauen die gleichen Rechte wie die Männer bekommen müssten. Die eigene Frauenzeitung war nötig, um den Forderungen der Frauen die Publizität zu verschaffen, die sie sonst nirgends hatten.

Mit den Männern ging es nicht?

Die Männer wollten Frauen schon in den politischen Clubs nicht dabeihaben. Bis heute wirft man Feministinnen vor, sie würden die Männer ausgrenzen. Dabei war die autonome Organisation historisch immer eine Reaktion der Frauen darauf, dass sie in der allgemeinen Politik nicht gewollt waren.

Wie kamen Frauen überhaupt auf die Idee, das Haus, ihre traditionelle Wirkungsstätte, zu verlassen?

Dieses traditionelle Frauenbild, das ist Propaganda. 90 Prozent der Frauen mussten schon immer ihren Lebensunterhalt verdienen. Allerdings haben die bürgerlichen Frauen nach dem Politikverbot ihre Aktivitäten als "geistige Mütterlichkeit" getarnt. So haben sie das traditionelle Bild quasi mitbefördert. Und durch unser männlich geprägtes Politikverständnis bleibt den Frauen bis heute die Anerkennung versagt, wenn sie anders Politik machen und andere Schwerpunkte setzen.

Frauen haben zu kleine Gehirne und können deshalb weder an höherer Bildung noch an der Politik teilnehmen, sagte man damals.

Zu diesen "Antifeministen" und ihren Scheinargumenten schrieb Hedwig Dohm 1902: "Weil sie sich heimlich ihrer Schwäche bewusst sind, betonen sie bei jeder Gelegenheit ihre Oberhoheit. Wenn die Frau nicht dümmer wäre als sie, wer dann?"

Frauen könnten Politik nicht mit ihrer umfangreichen Tätigkeit im Haus vereinbaren, lautete ein anderes Argument.

Und noch einmal Hedwig Dohm dazu: "Die naiven Männer meinen, dass Frauen deshalb so gut kochen und nähen, weil sie das Stimmrecht nicht haben. Wie aber kommt es, dass der wissenschaftliche, industrielle und künstlerische Beruf eines Mannes sich wohl verträgt mit politischer Tätigkeit?"

Und was taten die Frauen nun?

Sie haben das Politikverbot ausgehebelt, auf allen Ebenen. Die Arbeiterinnen haben nach jeder Auflösung ihrer Vereine neue gegründet und sich auch durch Gefängnisstrafen nicht davon abhalten lassen. Schließlich benannten sie Vertrauensfrauen, bei denen die Fäden zusammenliefen. Denn verboten waren ja nur Vereine, Einzelfrauen konnten durchaus eine Versammlung einberufen. Gegen das Politikverbot sind die Frauen übrigens auch juristisch vorgegangen, bis zum Reichsgericht.

Es ging bei den Bürgerlichen zunächst um Bildung für Frauen. War das ein Ausweichthema oder tatsächlich das vordringliche Anliegen?

Beides. Es ging um Unabhängigkeit. Frauen wollten arbeiten, und zum Ausüben bürgerlicher Berufe brauchten sie Bildung.

Wie kam es zum Ende des Politikverbots?

Das Reichsvereinsgesetz löste die Ländergesetze ab. Und in diesem war das Verbot nicht mehr enthalten. Es hatte sich als wirkungslos erwiesen, die Frauenbewegung war damit nicht aufzuhalten.

War die Isolation durch das Politikverbot eventuell ein Glücksfall, weil Frauen sich in Ruhe politisieren konnten? Sonst wären sie in den Parteien gleich untergegangen.

Da ist etwas dran. Als die Sozialistinnen nach 1908 in die SPD gingen, wurden sie erheblich geschwächt. Ihre Vereine und Veranstaltungen seien ja nun überflüssig, hieß es. Sie haben mühsam eine Art "Einerquote" durchgesetzt: In allen Gremien sollte wenigstens eine Frau sein. Aber konkret hat sich die SPD überhaupt nicht für das Frauenwahlrecht eingesetzt, obwohl sie das im Programm stehen hatte. Die Frauen sollten die Kampagne gegen das Dreiklassenwahlrecht unterstützen und die SPD würde dann hinterher das Frauenwahlrecht durchsetzen, hieß es. Clara Zetkin hat deshalb den Internationalen Frauentag initiiert.

Warum hat die SPD in den Frauen nicht auch ein politisches Potenzial gesehen?

Das ist paradox: Man warf den Frauen vor, sich nicht genügend politisch zu betätigen, hinderte sie aber gleichzeitig an eigenständiger Agitation unter den Frauen. Allerdings muss man sehen: viele andere Parteien haben Frauen bis zur Einführung des Wahlrechts 1918 gar nicht aufgenommen.

Ernüchternd.

Ja, und aufschlussreich: Alle Fortschritte für Frauen sind immer über Druck von unten erreicht worden: Das Wahlrecht kam in der Revolution, die Gleichberechtigung im Grundgesetz über eine große öffentliche Kampagne der Frauen, die Quoten in den Parteien kamen durch die Frauenbewegung, und nur dank der Quoten ist überhaupt eine nennenswerte Zahl von Frauen im Parlament gelandet. Das muss man jungen Frauen heute immer mal wieder mitteilen, die meinen: Ich brauche keine Bewegung und keine Quoten.

Quoten riechen nach Förderung von defizitären Wesen.

Dabei ist es ganz anders: Quoten, sagte die SPD-Politikerin Jeannette Wolf in der Nachkriegszeit, sind eigentlich Männerförderung. Damit erhalten Männer die Chance, die Fähigkeiten der Frauen zu erkennen. Eine Quote ist kein Armutszeugnis für die Frauen, sondern für die Gesellschaft, die es nicht schafft, auf anderem Wege Chancengleichheit herzustellen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg hat nur Elisabeth Selbert für den Gleichberechtigungsartikel gekämpft. Der Rest wollte partout keine "verschrobene Frauenrechtlerei" mehr betreiben. Warum so kleinlaut?

Es wurden immer die Frauen gewählt, die die Männer am wenigsten störten.

Auch die zweite Welle der Frauenbewegung in den Siebzigern ist schließlich in die Parteien und Institutionen gesickert. Zugleich ist damit der außerparlamentarische Druck verschwunden. Ein Dilemma, oder?

Nun, in den Institutionen haben die Frauen ja auch einiges bewirkt. Aber wenn der Druck von außen nachlässt, gibt es nicht nur keine weiteren Fortschritte, sondern auch immer wieder Rückschritte.

Die 70er-Jahre-Frauenbewegung entstand, als eine neue Generation mit dem Erreichten der alten Frauenbewegung extrem unzufrieden wurde. Sehen Sie heute noch eine Chance für so einen Generationenwechsel?

Es war mehr die Unzufriedenheit mit den 68ern. Ich denke, dass es immer eine Frauenbewegung gibt. Allerdings verändert sie ihre Bewegungsformen, und manchmal ist sie stärker als zu anderen Zeiten.

Wirklich? Sind junge Frauen nicht gerade sehr damit beschäftigt, sich lediglich individuell durchzusetzen?

Ach, solche Individualistinnen gab es immer schon. Ich beobachte bei meinen frauengeschichtlichen Führungen zweierlei: Zu den offenen Führungen für alle kommen wenige junge Frauen. Aber wenn Gruppen solche Führungen buchen, Berufsverbände von Frauen oder kirchlich organisierte Frauen, da merkt man, dass es noch eine Frauenbewegung gibt. Sie hat sich nur stark diversifiziert. Und dabei sind dann immer auch junge Frauen.

Nun sagen junge Feministinnen, von denen sich gerade ein paar als "Alphamädchen" hervorgetan haben, sie wollten nicht männerfeindlich sein, sondern Feminismus, der auch für Männer schön ist. Das sieht vor dem Hintergrund Ihrer Studien etwas illusionär aus, oder?

Das ist eine Utopie. Letztendlich geht es ja darum, diese Interessengegensätze aufzuheben und eine menschliche Politik zu entwerfen. Das würde ich sofort unterschreiben. Wissen Sie, diese Debatte "mit oder ohne Männer", die gibt es sei 1848. Doch von den Männern wurden Frauen immer wieder enttäuscht. Erreicht haben sie immer dann etwas, wenn sie auf ihre gemeinsame Kraft gesetzt haben.

INTERVIEW HEIDE OESTREICH

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