100 Jahre Oktoberrevolution: Die Zukunft der Vergangenheit

Die Russische Revolution war in Sachen Queerfeminismus nicht nur ihrer Zeit voraus, sondern auch unserer. Ein Essay.

Ein Pfeil auf einer Hauswand

Was ist Fortschritt? Foto: inkje/photocase

Am 25. Oktober 2017 wird der 100. Jahrestag der Russischen Revolution begangen. Zu Unrecht. Die Revolution hat keinen Jahrestag, da sie sich nicht an einem Tag ereignete. Die Erstürmung des Winterpalais war ein militärisches Manöver, kaum größer als die Maidemo in Berlin. In Wirklichkeit bestand die Russische Revolution aus einer Vielzahl von revolu­tio­nären Wellen, die miteinander wie gegeneinander laufen, sich aufstauen und gegenseitig überspülen, um häufig zu früh zu brechen oder zu verebben.

Die Revolution lebte in der massenhaften Desertion vom Ersten Weltkrieg (Frieden!), in der ungesetzlichen Enteignung von feudalem Land („Brot!“), in der Bildung von ArbeiterInnenräten („Alle Macht den Sow­jets!“). Sie zeigte sich in den Dörfern, wo Bäuerinnen es verweigerten, weiter Kirchensteuer zu zahlen, in den Bordellen, wo Sexarbeiterinnen in den Streik traten oder in den bürgerlichen Wohnungen, wo Hausangestellte ihre Kammern verließen und die hellen Wohnzimmer bezogen.

Bei der Frage, wann die Russische Revolution begann, neigen viele Historikerinnen zum 23. Februar 1917, nach heutiger Zeitrechnung der 8. März, der Internationale Frauentag. Aus der Demonstration für geschlechtliche Gleichheit und mehr Brot erwuchs die Forderung nach dem Sturz des Zaren. Was folgte, war die emanzipatorischste Sexual- und Geschlechterpolitik, die die moderne Welt bis dahin gesehen hatte: Das allgemeine Wahlrecht für alle Geschlechter wurde bereits von der Provisorischen Regierung durchgesetzt. Die Räteregierung legalisierte darüber hinaus Abtreibung, hob die Diskriminierung von unehelichen Kindern auf und verwandelte Eheschließung wie Scheidung in eine bürokratische Lappalie: ein Zettel reichte.

Wenn heute im Putinschen Russland das Verbot der „Propagierung von Homosexualität“ mit der Behauptung gerechtfertigt wird, Schwulitäten seien „unrussisch“, so geht das nur durch die Leugnung der Geschichte: Russland war einer der ersten Orte der Erde, an denen die christlichen „Sodomiegesetze“ gestrichen wurden. Aber der Queerfeminismus der Revolution ging weit darüber hinaus.

Anzeige wegen Ehe „wider die Natur“

1922 drang die Geschichte einer Ehe zwischen einem Mitglied der Tscheka, der politischen Polizei der Bolschewiki, und einer Postangestellten an die Öffentlichkeit. Besorgte Bürger hatten die Ehe bei den lokalen Autoritäten zur Anzeige gebracht, weil es sich um die Verbindung zwischen einer Cisfrau und einem Transmann oder Dragking handelte. Damit sei es, so die Denunzianten, eine Ehe „wider die Natur“. Im Deutschland des Jahres 2017 käme hier das sogenannte „Transsexuellengesetz“ (TSG), zum Einsatz.

Ein widerliches Machwerk, dessen Name bereits einen Anachronismus darstellt, und das von Menschen, die ihren wirklichen Namen in den deutschen Pass eintragen wollen, verlangt, sich der Pathologisierung durch Psychologen sowie der Beurteilung durch eine Richterin auszusetzen. Bezogen auf Ehe oder Elternschaft verfolgt das TSG vor allem den Zweck, die cisgeschlechtliche Norm durchzusetzen und allen Menschen, die dieser nicht genügen, das Leben zur Hölle zu machen.

Wie erfrischend hingegen die Logik, der das sowjetische Gericht vor einem knappen Jahrhundert folgte. Es erklärte die Ehe für rechtens, mit dem simplen Hinweis, dass sie im beidseitigen Einverständnis geschlossen war. That’s it. Die Russische Revolution war offenkundig nicht nur ihrer Zeit voraus. Sondern auch unserer.

Vielleicht war das sowjetische Gericht beim Umgang mit dem Eherecht auch allgemein entspannt, weil ihm an Schutze der bürgerlichen Ehe ohnehin wenig gelegen war. Diese Institution blieb nur dank eines taktischen Kalküls am Leben: Den Bolschewiki ging es darum, die Macht der orthodoxen Kirche einzuschränken.

Die Ehe für alle wäre 1917 niemanden als eine besonders fortschrittliche Parole erschienen

Die Ehe für alle wäre 1917 jedenfalls niemanden als eine besonders fortschrittliche Parole erschienen. Ziel war nicht die Ausdehnung, sondern die Abschaffung dieser patriarchalen Institution und aller ihrer Privilegien, mit anderen Worten – die Ehe für niemand. Dies war kein Zufall. Marxistische Theoretikerinnen wie Friedrich Engels, August Bebel, Clara Zetkin oder Alexandra Kollontai begriffen die Spaltung der Welt in Reproduktionssphäre und Produktionsphäre, in Familie und Beruf, als materielle Grundlage von Geschlechterdifferenz und Patriarchat.

Sie analysierten, dass die Familie bereits mit der kapitalistischen Industrialisierung an Einfluss verloren hatte, und forderten, diesen Prozess zu Ende zu bringen. Es ging darum, die Menschen aus dem Elend der Kleinfamilie zu befreien, die Verkümmerung, Missbrauch und Leiden hervorbringt. Wenn die Kinder aus den engen Wohnungen befreit würden und die Sorge um Alte und Kranke nicht länger privatisiert stattfände, wenn niemand mehr zu Hause kochen, waschen und putzen müsste und Zärtlichkeit nicht auf die romantische Zweierbeziehung beschränkt bliebe, dann wäre die Familie endlich überflüssig. Alle in ihrem Rahmen verrichteten Arbeiten würden nun öffentlich organisiert. In der Wirklichkeit hieß das: vom Staat. An die Stelle der weiblich kodierten Arbeit im Familienhaushalt sollte flächendeckend männlich kodierte Lohnarbeit treten.

Hieran zeigt sich die masku­linistische Beschränkung des tra­ditions­sozialistischen Eman­zipationsmodells. Geschlechtliche Gleichheit hieß Gleichheit mit Männern. Diese Verarmungspolitik ist mitverantwortlich für das grausame Scheitern des ersten großen sozialistischen Versuchs. Sie zeigt aber zugleich an, wo er nachhaltige Wirkungen hinterließ. Als in den 1930er Jahren die „sexuelle Konterrevolution“ des Stalinismus den Aufbruch der Revolution stoppte, ließ sie eine bemerkenswerte Ausnahme bestehen. Homosexualität wurde wieder kriminalisiert, Abtreibung verboten und die Kleinfamilie als Kernzelle des Staates beworben. Die Frauenerwerbsquote jedoch stieg weiter an.

Wie der Feminismus heute denunziert wird

Heute, angesichts des rechten Backlashs, wird Feminismus oft als Identitätspolitik denunziert. Ein grobes Missverständnis. Kämpfe um geschlechtliche Emanzipation werden an der materiellen Basis der Gesellschaft geführt, es sind Kämpfe um die Aufteilung der Welt – in Rationalität und Emotionalität, Anonymität und Intimität, in Öffentlichkeit und Privatsphäre. Und nur hier können sie auch gewonnen werden. Gerade der antifeministische Backlash in Zeiten der Krise demonstriert das. Nicht zufällig bläst der neue Faschismus wieder zur Verteidigung der Familie. Diese verspricht Sicherheit und Zugehörigkeit gegen die Indifferenz, Konkurrenz und Prekarität des Kapitalismus.

Allerdings kann die entmachtete Familie die in sie gesetzten Hoffnungen selten erfüllen. Für ihr ständiges Scheitern werden Sündenböcke gesucht – und in Feministinnen, Queers, Migrantinnen, Geflüchteten gefunden. Aufklärende Bildungsarbeit wird daran wenig ändern können, ebenso wenig wie Wahlen. Es ist die Art und Weise, in der wir unsere grundlegenden gesellschaftlichen Beziehungen gestalten, die immer wieder Angst erzeugt: nicht die viel thematisierte rassistische Angst vor einer eingebildeten Gefahr und nur vermittelt die wenig thematisierte reale Angst vor der rassistischen Gefahr.

Was die kapitalistische Ökonomie unentrinnbar erzeugt, ist eine allgemeine Angst: die Angst, nicht zu genügen, überflüssig zu sein, ersetzt zu werden. „Die Abschaffung der Angst“, konnte Theodor W. Ador­no deswegen bündig formulieren, „ist die Aufgabe der Revolution.“

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