Umweltskandal in Dortmund: Die vergifteten Menschen

In Dortmund hat ein Recyclingunternehmen über Jahre Arbeiter und Anwohner verseucht. Ihr Blut ist mit krebserregenden Giften belastet. Die Behörden schauten weg.

Zu teuer: Envio-Arbeiter bekamen keine Schutzanzüge. Bild: dpa

DORTMUND taz | Der Brief, den der Leiharbeiter Frank Meier* Ende September in seinem Briefkasten fand, macht Angst. "Mittlerweile liegen mir die Ergebnisse der bei Ihnen durchgeführten Untersuchungen auf Dioxine und Furane (PCDD/F) vor", schreibt der Aachener Arbeitsmediziner Thomas Kraus. "Im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung" gebe es bei Meier "erhöhte Belastungen" mit den krebserregenden Giften. Außerdem könnten außer ihm selbst auch "das häusliche Umfeld und zum Teil auch Familienangehörige" mit ebenfalls potenziell krebserregenden Polychlorierten Biphenylen (PCB) belastet sein - entsprechende Untersuchungen seien dringend erforderlich.

Vergiftet hat Meier ein mies bezahlter Job. Für 7,50 Euro pro Stunde hat er bei der Dortmunder Entsorgungsfirma Envio alte, hochgradig PCB-belastete Transformatoren zerlegt. Zwar sind die Chemikalien seit 2001 weltweit verboten, doch noch bis Ende der Achtziger wurden PCB in Transformatoren und Kondensatoren als Isolieröle und Kühlflüssigkeit benutzt. Heute müssen die elektrischen Bauteile als Sondermüll entsorgt werden, auch weil sich die Chemikalie bei Überhitzung in das extrem gefährliche Dioxin verwandelt.

Für Envio war die Sache ein gutes Geschäft: Die Firma kassierte für die Entsorgung sowie den Verkauf von angeblich gereinigten Metallen wie Kupfer, die ebenfalls in den Trafos stecken. Selbst aus Kasachstan ließ Envio deshalb mindestens 197 Tonnen Kondensatoren und Transformatoren heranschaffen.

Noch heute wirbt der international tätige Envio-Konzern mit seiner Technologie zur "sicheren und umweltfreundlichen Dekontaminierung". Dabei herrschten zumindest in Dortmund frühkapitalistische Arbeitsbedingungen: Vor allem Leiharbeiter wie Meier schraubten ohne jede Schutzkleidung an den Uralttrafos herum, atmeten PCB- und dioxinhaltigen Staub ein. Die Gifte nahmen sie über die Lunge und die Haut auf - und sobald die Arbeiter anfingen, kritische Fragen zu stellen, wurden sie ersetzt.

"Ohne Leiharbeit wäre das System Envio viel schneller zusammengebrochen", sagt die Dortmunder DGB-Vorsitzende Jutta Reiter. Verseucht wurden auf diese Weise hunderte Arbeiter, aber auch Anwohner: Wohl um die PCB-Konzentration in den Demontagehallen zu reduzieren, ließ Envio-Geschäftsführer Dirk Neupert einfach die Tore öffnen. Belastet sind deshalb neben dem Außengelände der Giftfirma auch Teile des angrenzenden Hafens und der dicht besiedelten Dortmunder Nordstadt.

"Wir haben bisher 200 Personen untersucht", berichtet Thomas Kraus, der an der TH Aachen Arbeitsmedizin lehrt. "Weitere 70 sind auf der Warteliste." Kraus klingt noch immer erschrocken, wenn er über Envio spricht: "Ich hätte nicht gedacht, dass solche Belastungen möglich sind." Im Blut der Opfer fanden sich Konzentrationen, die bis zu 25.000-mal so hoch sind wie normal - nach jahrzehntelanger weltweiter Verbreitung trägt jeder Mensch Spuren von PCB in sich.

Sämtliche der taz vorliegende Unterlagen können Sie im Internet weiterverwenden, solange Sie auf die Quelle www.taz.de verlinken: Wir bieten Ihnen folgende PDF-Dateien zum Download: 482 Seiten Genehmigungen und 440 Seiten aus der "Verfahrensakte". Chronologisch aufgearbeitet.

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Die Giftschleuder Envio

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Seit 2008 hat die Envio hunderte Arbeiter und Anwohner nicht nur mit im Tierversuch krebserregenden PCB, sondern auch mit den Seveso-Giften Dioxin und Furan verseucht. Dabei galt das Recycling im Dortmunder Norden als Vorzeigeprojekt: Schon seit den achtziger Jahren wurden hier Gifte aufbereitet. Doch während unter Führung der schweizerischen BBC und auch nach der Fusion mit dem schwedischen Asea-Konzern zu ABB offenbar Umwelt- und Arbeitsschutzauflagen eingehalten wurden, herrschte seit einem Management-Buy-out 2004 Manchesterkapitalismus: Arbeiter von Envio haben bis zu 25.000-mal so viel PCB im Blut wie die Normalbevölkerung.

Die Aktie der neu gegründeten Envio AG entwickelte sich bis

zur Aufdeckung des PCB-Skandals prächtig. Bei den Aktionären, die am Dienstag in der noblen Dortmunder Hohensyburg über die Zukunft ihres Unternehmens beraten wollen, dürfte die Stimmung deshalb am Boden sein. Envio-Geschäftsführer Dirk Neupert schlägt seinen Geldgebern jetzt die Flucht aus Nordrhein-Westfalen vor: Die Giftfirma soll umziehen - nach Hamburg.

Klar sei, dass die Chemikalie zu "Erkrankungen des Immun-, Nerven- und Hormonsystens" führen könne, ebenso zu "Unfruchtbarkeit, Leberschäden, Hautveränderungen". Gleiches gilt für Dioxin, dessen krebserregende Wirkung nicht nur im Tierversuch, sondern auch für Menschen bewiesen ist. Belastet wurden laut Kraus sogar Kinder und Schwangere: Mit ihrer verdreckten Kleidung schleppten die Arbeiter das Gift nach Hause, verseuchten die Wohnung und über die Waschmaschine auch die Kleidung ihrer Familie.

Dabei hätte die Katastrophe zumindest teilweise verhindert werden können: Schon 2008 stellte das nordrhein-westfälische Landesamt für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz bei Routinekontrollen eine erhöhte PCB-Belastung im Dortmunder Norden fest. Anfang 2009 wurden Anwohner gewarnt, Gemüse wie Grünkohl aus ihren Gärten auf keinen Fall zu essen - an der rauen Oberfläche des Kohls haften die PCB-Stäube besonders gut.

Einen Zusammenhang mit der benachbarten PCB-Firma Envio sah aber niemand. Die staatlichen Kontrolleure brauchten noch bis zum 30. April 2010, um die Giftfirma durch die Entnahme von Proben zu überführen. Genehmigungs- und Verwaltungsunterlagen, die die taz nach monatelangem Tauziehen bei der zuständigen Bezirksregierung in Arnsberg einsehen konnte, machen deutlich, wie gleichgültig die Beamten der Verseuchung gegenüberstanden.

Selbst ein "anonymes Schreiben über illegale Aktivitäten der Firma" konnte die Beamten der Bezirksregierung nicht aufrütteln - stattdessen informierten sie prompt Envio: "Aufgrund des Schreibens fand am 22. 09. 2008 eine Besprechung mit Ortsbesichtigung statt, die wegen des laufenden Genehmigungsverfahrens seit längerem terminiert war", heißt es in den Akten. Envio war also vorbereitet - Verdächtiges konnten die Kontrolleure nicht entdecken: "Somit wird keine Stilllegungsanordnung getroffen", steht in dem Vermerk abschließend.

Im Januar 2010 blieb eine weitere anonyme Anzeige folgenlos: Ein ehemaliger Mitarbeiter hatte die Demontage von Trafos "bei geöffneten Toren" bemängelt. Auch unter Arbeitsschutzbedingungen" sei Envio "nicht sauber", mailte ein Mitarbeiter des Umweltamts der Stadt Dortmund nach Arnsberg weiter. Am 27. Januar meldet sich dann ein Pförtner von Envio, der offenbar ebenfalls nur auf Leiharbeitsbasis angestellt ist: Vor jedem Besuch der Kontrolleure finde ein "Großreinemachen" statt. "Der Zustand, den der Betrieb danach vorzeigte, entspräche nicht dem Normalbetrieb bei Envio", vermerken die Beamten in den Akten - und ziehen wieder keine Konsequenzen.

Merkwürdig ist das nur auf den ersten Blick. Denn entgegen jeder guten Verwaltungspraxis ist seit 1998 immer derselbe Mitarbeiter der Umweltverwaltung für die Genehmigung des Envio-Betriebs verantwortlich: Bernd K.**. Immer wieder notiert K., wie kooperativ Envio-Geschäftsführer Dirk Neupert sei. Mindestens achtmal muss Neupert Betriebsänderungen und -vergrößerungen nur "anzeigen" - K. entscheidet dann nach Aktenlage, Kontrollen finden nicht statt. S

elbst als der Envio-Geschäftsführer 2005 beantragt, künftig auch Großtransformatoren, die in der hessischen Untertage-Giftmülldeponie Herfa-Neurode einlagern, ans Tageslicht zurückzuholen, gibt sich K. großzügig: "Die angezeigte Änderung bedarf keiner Genehmigung", schreibt er am 16. Januar 2006 - dabei gilt die unterirdische Müllkippe längst als "das größte Giftgrab der Welt", wie selbst konservative Springer-Zeitungen notieren.

Noch bis Januar 2010 darf Envio große Teile der bisher erteilten Genehmigungen unter Hinweis auf Geschäftsgeheimnisse für vertraulich erklären. Entsprechend kryptisch fallen Antworten auf Anfragen der Grünen im Dortmunder Stadtrat aus - schließlich wird da schon seit über einem Jahr nach dem Verursacher der PCB-Verseuchung am Hafen gesucht. Die Antwort an die Parlamentarier wird mit Envio abgestimmt - und den Firmeninteressen entsprechend zensiert. Und am 11. Februar 2010 winkt K. sogar noch eine Kapazitätserweiterung durch.

Stillgelegt wird der Betrieb erst am 30. April: Das Landesamt für Naturschutz hat endlich Proben genommen, ausgewertet und festgestellt, dass der europäische PCB-Grenzwert "um ein Vielfaches" überschritten wird. Erlaubt sind 50 Milligramm pro Quadratmeter, gemessen werden bis zu 7,7 Gramm - also die 154-fache Menge.

Auf die Frage, warum denn so viele Jahre stets nur ein Mitarbeiter für die Genehmigungen bei Envio zuständig war, sagt der Arnsberger Vorgesetzte von Bernd K., Hauptdezernent Joachim Schmied: "Viel zu wenig Personal." Nur eine "Handvoll Beamte" sei für die Überwachung tausender Betriebe zuständig, klagt Schmied. "Eine Systematik" hätten die Umweltkontrolleure bis heute nicht entwickelt: "Wir können oft schlicht nicht einschätzen, welche Betriebe besonders gefährlich sind."

Die Dortmunder DGB-Chefin Reiter hält darum auch den landesweiten Abbau der Umweltverwaltungen für "fatal", den SPD-Ministerpräsident Wolfgang Clement noch eingeleitet hatte. Besonders die Auflösung der staatlichen Umweltämter unter dem jetzt als Landtagspräsident amtierenden früheren Umweltminister Eckhard Uhlenberg sei "katastrophal", heißt es hierzu im Umweltministerium.

Die seit Mai 2010 regierende rot-grüne Minderheitsregierung sagt Besserung zu. Zusammen mit SPD-Arbeitsminister Guntram Schneider hat der grüne Umweltminister Johannes Remmel das Prognos-Institut mit einem Gutachten beauftragt: Geklärt werden soll, warum die Kommunikationspannen, das Behördenversagen überhaupt möglich wurden. Schon heute verspricht Remmel "Aufstockung des Personals, neue Überwachungsansätze, neue Strukturen". Im ersten rot-grünen Nachtragshaushalt sind 100 neue Umweltkontrolleure vorgesehen, 200 weitere sollen folgen. "Aber derzeit", warnt ein hochrangiger Ministerialer, "kann sich ein Fall wie Envio jederzeit wiederholen."

Envio-Geschäftsführer Neupert kümmert das alles wenig. Seinen Dortmunder Betrieb hat er in die Insolvenz geschickt. Viele seiner ehemaligen Arbeiter haben dagegen Mühe, einen neuen Job zu finden: Sollten sie erkranken, könnte ihr Betrieb verantwortlich gemacht werden, befürchten viele Arbeitgeber. Als Berufskrankheit ist die Vergiftung noch nicht anerkannt: Schließlich sind die PCB-Opfer noch arbeitsfähig. Manche haben sich deshalb noch immer nicht untersuchen lassen - Listen, wer wann genau bei Envio gearbeitet hat, existieren nicht. "Die Leute", appelliert Arbeitsmediziner Kraus, "müssen sich bei uns melden".

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