Militärputsch in der Türkei: Fatsa, eine Ouvertüre

Eine Kommune infizierte ein ganzes Land und erschreckte die Mächtigen. Der Sohn des damaligen Bürgermeisters von Fatsa erinnert sich.

Am 12. September 1980 fuhren auch in der Hauptstadt Ankara die Panzer auf. Bild: ap

FATSA taz | Im Morgengrauen des 11. Juli 1980 dröhnen die Panzer durch die Straßen von Fatsa. Doch nicht nur auf dem Landweg bricht der Krieg in das Städtchen am Schwarzen Meer ein. Auch auf See tauchen mehrere Kriegsschiffe auf, die Fatsa damit völlig von der Außenwelt abschneiden. Tausende Soldaten schwärmen in dem kleinen Ort aus, Haus um Haus wird aufgebrochen und durchsucht.

"Viele Männer konnten rechtzeitig in die Hügel hinter der Stadt fliehen", erzählt Naci Sönmez. "Alle anderen, auch Frauen und Kinder, wurden dagegen auf dem zentralen Platz des Ortes zusammengetrieben, während Armee und Polizei Fatsa auf den Kopf stellten. Mein Vater war im Ort geblieben und stellte sich dem Militär.

Als Bürgermeister hielt er es für seine Pflicht zu versuchen, die Leute zu schützen". Fatsa, ein Ort, der sich selbst verwaltet und zu einem Symbol der Linken wird. Das Militär reagiert panisch aus Angst, dass diese Idee auf andere Orte überschwappt. Im Rückblick ist klar, dass der Einmarsch der Armee in Fatsa die Ouvertüre zum Putsch zwei Monate später, am 12. September 1980, war.

Der damals 16-jährige Naci Sönmez ist heute 46 Jahre alt, sein Vater war der Bürgermeister von Fatsa: Fikri Sönmez war damals einer der bekanntesten Kommunalpolitiker der Türkei. Wir treffen uns auf der Terrasse eines Teehauses in Fatsa. Die Stadt liegt am östlichen Rand des Schwarzen Meers, über tausend Kilometer von Istanbul entfernt.

Naci Sönmez erzählt von dem Tag, an dem der Traum der türkischen Linken vor 30 Jahren von der Armee zerstört wurde. Für die Linke war sein Vater ein Held des Volkes, der damalige Regierungschef Süleyman Demirel und das Militär beschimpften ihn dagegen als Kopf einer kommunistischen Verschwörung, die nichts weniger als den Umsturz der Türkei zum Ziel gehabt haben soll. Dabei war Fikri Sönmez ein einfacher Schneider. Allerdings einer mit Charisma.

"Fikri Sönmez konnte die Leute begeistern und wurde in Fatsa über alle Parteigrenzen hinweg als integere Person geschätzt. Dass die Stadt damals zu einem Symbol der Linken wurde, hatte vor allem mit Fikri Sönmez zu tun", sagt Saruhan Oluc, ein Istanbuler Intellektueller, der wie viele Linke damals nach Fatsa gepilgert war, um die Volksherrschaft am Schwarzen Meer zu bestaunen.

Fatsa ist heute eine Gemeinde mit rund 60.000 Einwohnern. Die Stadt liegt idyllisch an einer weit geschwungenen Bucht direkt am Meer, eingerahmt von Bergen, die nach Osten hin bis zu 3.000 Metern hoch werden. Dass dies einmal der Sehnsuchtsort der türkischen Linken war, ist heute überhaupt nicht mehr zu erkennen.

Der Bürgermeister Hüseyin Anlayan stammt von der regierenden, islamisch grundierten AKP. Sein Lieblingsprojekt, für das er überall in der Stadt Plakate hat aufstellen lassen, ist ein großes Einkaufszentrum mit einer integrierten Sporthalle und einem Schwimmbad. Das soll das moderne Markenzeichen der Stadt werden.

Vor dreißig Jahren waren da, wo heute die Apartmentblöcke der Stadt stehen, noch alles Haselnussfelder. Auf alten Fotos, die Nacis Freund Fatih auf seinem Computer zeigt, sieht man eine Kleinstadt mit wenigen Betonbauten und niedrigen einstöckigen Häusern, zwischen denen Fikri Sönmez gerade eine Gruppe von Fatsa-Bewohner beim Bau einer Straße anfeuert. Damals waren es rund 15.000 Menschen, die hier lebten, hauptsächlich Haselnussbauern und Fischer.

Die Stadt liegt am westlichen Rand eines der weltweit größten Haselnussanbaugebiete. Die Plantagen der Haselnussbüsche ziehen sich an den Hängen des Schwarzes Meeres über 200 Kilometer bis Trabzon hin. Ohne die Haselnüsse vom Schwarzen Meer gäbe es viel weniger leckere Nussschokolade.

Der Schneider Fikri Sönmez war im Herbst 1979 als Unabhängiger zum Bürgermeister gewählt worden, weil er die Bauern ermunterte, sich gegen die staatlichen Aufkäufer der Haselnussernte zu wehren, die nur einen Hungerlohn zahlen wollten. Unterstützt wurde Fikri Sönmez von "Devrimci Yol", (Revolutionärer Weg), einer linke Bewegung, die landesweit aktiv war und mit Fikri Sönmez und Fatsa endlich ein Beispiel hatte, wie linke Volksdemokratie funktionieren könnte.

"Mein Vater", erzählt Naci Sönmez, "sorgte dafür, dass die Kommune sich durch Komitees selbst verwaltete." Alle 5.000 Wahlberechtigten des Ortes beteiligten sich an der Wahl der Komitees, die sich von der Vermarktung der Haselnüsse in einer eigenen Kooperative, über den Straßenbau bis hin zur Fischfabrik des Ortes dann auch tatsächlich aller Probleme erfolgreich annahmen. "Egal welcher Partei jemand bis dahin angehört hatte, alle in Fatsa unterstützten die Komitees. Die Menschen waren begeistert."

Fatsa wurde zum Symbol einer linken, selbst verwalteten Kommune, ein Experiment, das bald eine landesweite Ausstrahlung hatte. Von überall in der Türkei kamen Besucher, die sich das Modell Fatsa anschauen wollten.

Die rechte Regierung und die Militärführung befürchteten, dass Fatsa überall in der Türkei entstehen könnte. Die "Kommunisten" mussten gestoppt werden. Nach nur neun Monaten rollten deshalb die Panzer und zerstörten den Traum einer anderen Türkei. Doch die neun Monate genügten, um Fatsa im kollektiven Gedächtnis der türkischen Linken fest zu verankern.

Naci Sönmez war damals, 1980, als die Panzer kamen und der Rätedemokratie in Fatsa ein abruptes Ende setzten, noch ein Jugendlicher. Er kann sich gut an alles erinnern. "Die Soldaten waren aggressiv, aber auch unsicher. Man hatte ihnen vor ihrem Einsatz in Fatsa erzählt, sie würden dort auf schwer bewaffnete Kommunisten treffen. Sie glaubten tatsächlich, wir hätten Panzer aus Russland, oder die Russen würden über das Meer kommen und uns helfen."

Der 16-jährige Naci Sönmez wurde gemeinsam mit seinem Vater und vierzig anderen Einwohnern von Fatsa, die man für die kommunistischen Rädelsführer hielt, verhaftet und in einem Militärgefängnis in Amasya interniert. Naci kam im März 1984 wieder frei, sein Vater überlebte das Gefängnis nicht. Er starb im April 1985, offiziell an einem Herzinfarkt. "Er hat die Folter nicht überlebt", sagt Naci mit belegter Stimme.

"In Fatsa", davon ist Naci Sönmez überzeugt, "haben sie geprobt und geschaut, wie das Land reagiert. So wie die Linken in Fatsa völlig jenseits aller Legalität verfolgt und verhaftet wurden, wurde die Linke dann nach dem Putsch im ganzen Land zerschlagen."

Naci Sönmez gehört in Fatsa zusammen mit einigen Freunden zu den Wenigen, die die Erinnerung an den kurzen Frühling des Sozialismus aufrechterhalten. Er musste nach seinen Jahren im Gefängnis gleich anschließend zum Militär und kam erst danach, Jahre später, wieder nach Fatsa.

"Es war anfangs sehr schwer für mich, wieder hier zu leben", erzählt er. "Die Stadt hatte sich völlig verändert." Die Postputschgeschichte von Fatsa ist symptomatisch für die Entwicklung, die das Land in den nachfolgenden 30 Jahren insgesamt durchlief. "Nachdem man die Linken verhaftet oder vertrieben hatte, wurde das Vakuum von konservativen Leuten aus den umliegenden Dörfern gefüllt, die hier ihre Läden öffneten und ihre Kinder zur Schule schickten.

Lange Jahre war die noch unter den Militärs neu erbaute Imam-Hatip-Schule das größte Gebäude der Stadt", erinnert sich Naci Sönmez. Imam Hatip steht für eine religiös orientierte Schulausbildung, und es gehört zu den Widersprüchen der türkischen Politik, dass ausgerechnet die Militärs, die sich heute mit der islamisch orientierten AKP eine Dauerfehde um die Macht im Land liefert, damals den Religiösen Tür und Tor öffnete, um die Linke zu unterdrücken.

In den 80er und 90er Jahren wurde die Stadt von konservativen Bürgermeistern regiert. Der letzte von ihnen wurde wegen fortgesetzter Korruption aus dem Amt gejagt. Seitdem regiert auch in Fatsa die AKP.

Einmal hat Naci Sönmez versucht, das Erbe seines Vaters auch politisch anzutreten. 1999 ließ er sich von der kleinen linken ÖDP als Bürgermeisterkandidat aufstellen. "Es war eine interessante Erfahrung", schmunzelt er. "Viele Leute kamen zu mir und erzählten, wie sehr sie meinen Vater geschätzt hatten. Gewählt haben sie mich dann aber nicht. Politisch war es eine Pleite."

Politisch spielt die Linke in Fatsa keine Rolle mehr. Mit den wenigen, die noch da sind, hat Naci Sönmez sich zu guter Letzt auch noch wegen einer Frage überworfen, die zurzeit das gesamte Land spaltet: "Hayir" oder "Evet" - "Ja" oder "Nein" - heißt es am kommenden Sonntag bei einem Referendum zur Reform der 1982 von den Militärs dem Land oktroyierten Verfassung.

Während der größte Teil der Linken der regierenden AKP vorwirft, mit der Reform vor allem ihre eigene Macht absichern zu wollen, verkündet Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan landauf, landab, mit der reformierten Verfassung würde endgültig die Herrschaft des Militärs in der Türkei beendet.

Naci Sönmez gibt ihm in diesem Punkt recht. "Auch wenn ich kein Freund der AKP bin", sagt er, "werde ich am Sonntag mit Ja stimmen. Jede Reform der alten Militärverfassung ist besser als gar nichts."

Obwohl Erdogan in seinen Reden dieser Tage gelegentlich auch der Opfer des Putschs vor 30 Jahren gedenkt, ist von einer offiziellen Rehabilitation von Fikri Sönmez in Fatsa keine Rede. Keine Tafel erinnert an ihn, keine Schule ist nach ihm benannt. Stattdessen heißt die größte Straße quer durch Fatsa, die Fikri Sönmez damals anlegen ließ, ausgerechnet Kenan-Evren-Straße. Kenan Evren war der Chef der Putschjunta von 1980.

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