Historiker über Vertriebenen-Streit: "Da kann ich als Pole nicht helfen"

Polen und Deutsche haben sich längst versöhnt, sagt der polnische Historiker Tomasz Szarota. Jetzt geht es um die Versöhnung der Deutschen mit sich selbst.

Erinnern an die Vertreibung der Deutschen: Erika Steinbach in der Ausstellung "Erzwungene Wege". Bild: reuters

taz: Herr Szarota, sind Sie sehr verbittert?

Tomasz Szarota: Verbittert? Nein, gar nicht. Wieso?

Sie wollten an einem Museumsprojekt in Berlin mitarbeiten, das sich - neben den Themen "Flucht, Vertreibung" - die "Versöhnung" zum Ziel gesetzt hat.

70, polnischer Historiker, spezialisiert auf die Geschichte des Zweiten Weltkriegs, die deutsche Okkupation Polens und den polnischen Widerstand. Sein Vater wurde von den deutschen Besatzungstruppen wenige Wochen vor der Geburt des Sohnes erschossen, seine Mutter war eine bekannte Germanistin. Seit 1962 arbeitet Szarota am Institut für Geschichte der Polnischen Akademie der Wissenschaften (PAN) in Warschau. Außerdem gehört er dem wissenschaftlichen Beirat für das in Danzig geplante Museum des Zweiten Weltkriegs an. Im Dezember 2009 zog er sich aus dem wissenschaftlichen Beraterkreis der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung in Berlin zurück.

Szarota: Ja, ich wollte zeigen, dass wir Polen uns durchaus in das Schicksal derjenigen Deutschen hineinfühlen können, die 1945 ihre Heimat im Osten verloren haben. Die zu den letzten Opfern Hitlers gehörten und für den Krieg bezahlen mussten, den die Deutschen selbst begonnen hatten.

Warum haben Sie dann nun das Handtuch geworfen?

Ich habe nicht das Handtuch geworfen! Mir ist nur klar geworden, dass es bei dem Projekt gar nicht um die Versöhnung mit den Polen geht. Diese Phase haben wir ja auch längst hinter uns. Nein, es geht um die Versöhnung der Deutschen mit sich selbst. In Deutschland gibt es Menschen, die bis heute das Gefühl haben, als Flüchtlinge und Vertriebene in eine "kalte Heimat" gekommen zu sein. Sie fordern von der Mehrheitsgesellschaft Mitleid ein. Da kann ich als Pole nicht helfen. Das müssen die Deutschen schon unter sich ausmachen.

Aber Sie wurden doch als Pole eingeladen. Also geht es den Deutschen doch um die deutsch-polnisch Versöhnung?

Ich dachte das zunächst auch. Hans Ottomeyer, der Direktor des Deutschen Historischen Museums, dachte das sicher auch, als er mich im Juli 2009 bat, Mitglied des Wissenschaftlichen Beraterkreises zu werden. Schließlich wissen alle, dass ich mich mein ganzes Leben lang für die Versöhnung mit den Deutschen eingesetzt habe. So wie auch schon meine Mutter und meine Großmutter. Dabei war das nicht selbstverständlich. Die Deutschen erschossen gleich zu Kriegsbeginn meinen Vater, sodass ich ihn nie kennengelernt habe. Ich bin in den Ruinen von Warschau aufgewachsen. Schon als Kind wusste ich, dass die Deutschen fünf bis sechs Millionen polnische Staatsbürger ermordet hatten. Dennoch habe ich Deutsch gelernt, bin Spezialist für den Zweiten Weltkrieg und die deutsch-polnischen Beziehungen geworden.

Wann haben Sie bemerkt, dass es bei der Stiftung "Flucht, Vertreibung, Versöhnung" gar nicht um die deutsch-polnische Versöhnung geht?

Auf der ersten Sitzung des Beirats. Bis auf die Publizistin Helga Hirsch kannte ich dort niemanden. Es war kein einziger Wissenschaftler da - weder von den jüngeren noch von den älteren -, mit dem ich bisher zusammengearbeitet hatte.

Das muss ja noch nichts heißen.

In diesem Fall doch. Denn in diesem neunköpfigen Kreis sitzen lauter Deutsche, die auch dem Wissenschaftlichen Beirat des Zentrums gegen Vertreibungen angehören. Die also dem Bund der Vertriebenen (BdV) nahestehen. Sogar Hans Maier, der Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beraterkreises, ist offizieller Unterstützer des BdV-Zentrums. Ebenso Krisztián Ungváry oder Peter Becher. Da sitzt kein einziger Forscher, der sich kritisch mit dem verqueren Geschichtsbild, den überhöhten Opferzahlen oder der braunen Vergangenheit vieler BdV-Funktionäre beschäftigen würde. Es ist einfach so: Die Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung ist ein Klon des Zentrums gegen Vertreibungen.

Und Sie wollten nicht das Feigenblatt sein?

Genau. Mit dem Versöhnungskonzept des BdV kann ich nichts anfangen.

Wie sieht das aus?

Es beruht auf der Charta der deutschen Heimatvertriebenen vom 5. August 1950. Darin verzichten die Flüchtlinge auf "Rache und Vergeltung". So als hätten sie ein Recht auf Rache. Dabei haben die Deutschen den Krieg begonnen. 1945 mussten Deutsche und Polen ihre Heimat im Osten verlassen - als Folge des von den Deutschen angezettelten Krieges. Abgesehen von all den Verbrechen, die die Deutschen während des Krieges begangen haben, heißt es dann noch in der Charta: "Die Völker der Welt sollen ihre Mitverantwortung am Schicksal der Heimatvertriebenen als der vom Leid dieser Zeit am schwersten Betroffenen empfinden." Das ist einfach nur zynisch, wenn man bedenkt, was die Deutschen den Juden, Polen, Russen und vielen anderen Opfern angetan haben.

Schon der Publizist Ralph Giordano hat die Vertriebenen-Charta kritisiert.

Und hat den Unterstützerkreis des Vertriebenenzentrums verlassen, ebenso wie die Historiker Micha Brumlik vom Fritz Bauer Institut in Frankfurt und Mosche Zimmermann von der Hebräischen Universität in Jerusalem.

Wussten Sie das nicht, als Sie Ihre Teilnahme am Wissenschaftlichen Beraterkreis zugesagt haben?

Ich hatte einen gewissen Verdacht, aber mir war nicht klar, dass sich die Bundesregierung das Geschichtsbild des BdV so sehr zu eigen gemacht hat, dass Personal und Konzept des Zentrums gegen Vertreibungen einfach übernommen werden. Manfred Kittel, der Direktor der Stiftung, hat dies vor kurzem im Spiegel-Interview ganz klar gesagt. Es geht um die Gestaltung der deutschen Erinnerungskultur. Er selbst hat ein Buch geschrieben mit dem Titel "Vertreibung der Vertriebenen?". Das sagt doch alles.

Was für eine Rolle spielte der offene Brief des CDU-Europaabgeordneten Daniel Caspary an Außenminister Guido Westerwelle?

Der Brief ist einer der Tropfen, die das Fass zum Überlaufen brachten. Außer Caspary haben diesen widerlichen Brief 16 EU-Parlamentarier der CDU/CSU unterschrieben. Caspary fragt darin, ob der Bundesregierung "Erkenntnisse" vorliegen über "mögliche Taten, Aktivitäten oder Äußerungen" der künftigen polnischen Partner der Stiftung. Und ob diese Taten einer Zusammenarbeit mit den Deutschen entgegenstehen könnten. Das ist infam und antipolnisch.

Wie soll es jetzt weitergehen?

Die Deutschen haben sich mit dieser Stiftung in eine Sackgasse manövriert. Ob mit Steinbach oder ohne - das künftige Museum wird Schaden in den deutsch-polnischen Beziehungen anrichten. Vor allem als staatliches Museum. In der heutigen Situation wäre es am besten, der Forderung von Steinbach nachzugeben und die Stiftung aus dem Verbund mit dem Deutschen Historischen Museum herauszunehmen. Soll doch der BdV sein eigenes kleines Museum in Berlin bauen!

Zurück an den Start? Das wäre doch die Rückkehr zum Zentrum gegen Vertreibungen?

Der Protest der Polen hat den Deutschen klargemacht, dass an dem Geschichtsbild des Vertriebenenbundes etwas nicht stimmen kann. Wir haben unsere Aufgabe erfüllt. Nun müssen sich alle Deutschen fragen, wer eigentlich die "vom Leid dieser Zeit am schwersten Betroffenen" sind. Die Deutschen selbst? Oder doch die Juden? Die Polen, die Russen? Vielleicht wäre ein Museum in Berlin gar nicht schlecht, in dem die Deutschen mit sich selbst ins Reine kommen könnten. Die Ausstellung des Deutschen Historischen Museums "Flucht, Vertreibung, Integration" könnte als Vorbild dienen. Auch für den Namen des künftigen Museums übrigens. Das Wort "Versöhnung" sollte man streichen. Es ist missverständlich. "Integration" ist viel angemessener. Diejenigen Polen und Deutschen hingegen, die sich schon lange versöhnt haben, könnten das "Europäische Netzwerk Erinnerung und Solidarität" aktivieren und gemeinsame Veranstaltungen planen. Auch das in Danzig geplante Museum des Zweiten Weltkriegs wäre ein idealer Ort für eine gute Zusammenarbeit.

Was aber, wenn die Deutschen dem Einfluss des BdV erliegen und tatsächlich zu dem Schluss kommen, dass die Deutschen neben den Juden die eigentlichen Opfer des Zweiten Weltkriegs sind?

Niemand auf der ganzen Welt würde diese Sicht teilen. Aber schon jetzt weckt der deutsche Opferdiskurs die Erinnerung der Opfer im ehemals nazibesetzten Europa. Sie sehen, dass Berlin den Tätern und Opfern, die im BdV organisiert sind, Millionen an Steuergeldern zuschanzt. Da fragen sich die Griechen, die Italiener, die Polen natürlich: Und was ist mit uns? Irgendwann werden auch die Russen Forderungen stellen, die Ukrainer und alle anderen Opfer des Zweiten Weltkriegs. Das ist nur gerecht.

Was ist eigentlich das Hauptproblem in der deutsch-polnischen Erinnerungsdebatte?

Das Hauptproblem ist die richtige Gewichtung. Die Deutschen reden immer öfter von einem "Jahrhundert der Vertreibung". Sicher ist der Verlust der Heimat eine Tragödie. Aber es gibt etwas Schlimmeres. Das ist die Vertreibung aus dem Leben. Es ist ein Unterschied, ob die Deportationszüge im Vernichtungslager Auschwitz hielten oder im Grenzdurchgangslager Friedland. Die einen gingen in den Tod, die anderen in eine neue Heimat. Mein Vater wurde von den Deutschen erschossen, während Erika Steinbach mit ihrer ganzen Familie nach Hanau zurückkehrte. Sie kann mir nicht die Hand reichen und sagen: "Ich vergebe Ihnen, Herr Szarota."

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