Islamwissenschaftler über Lage in Libyen: "Die Spaltung wird andauern"

Die innerlibyschen Gebietsgrenzen zwischen Gaddafi und Opposition werden sich wohl festigen, sagt der Islamwissenschaftler Reinhard Schulze. Die Revolte sei ein Generationenkonflikt.

Die Fronten in Libyen sind klar. Bild: dpa

taz: Herr Schulz, Prognosen sind immer heikel. Trotzdem: Wie wird es in Libyen in ein paar Wochen oder Monaten aussehen?

Reinhard Schulze: Man wird wahrscheinlich um eine Art von Konsolidierung der Grenzen nicht herumkommen, die innerhalb Libyens jetzt gezogen werden. Konsolidierung bedeutet, dass die Teile, die aktuell von der Opposition besetzt sind, auch Gebiet der Opposition bleiben. Und dass jenes Dreieck, das Gaddafis Truppen kontrollieren, auch weiterhin unter seinem Machtgefüge bleibt.

Glauben Sie, dass die Aufständischen noch erfolgreich darin sein werden, den Belagerungsring um die Städte zu sprengen, die eingekreist sind?

(58) ist seit 1995 Professor für Islamwissenschaft und Neuere Orientalische Philologie an der Universität Bern. Geboren wurde er in Berlin, sein Studium der Islamwissenschaft absolvierte er in Bonn.

Da bin ich bei der Stadt Misurata – mit dem Meer im Rücken – leider sehr pessimistisch. Ich sehe da praktisch keine Handlungsmöglichkeit. Bei Sintan sieht es etwas anders aus. Da hat man immer noch einen Gebirgszug im Hintergrund, man kann dort noch aus anderen Perspektiven eine Verteidigung aufbauen.

Befürchten Sie eine dauerhafte Spaltung des Landes?

Die Spaltung wird sicherlich die nächsten Monate bestehen bleiben, sofern nicht das System Gaddafi selbst aus internen Gründen kollabiert. Davon hängt die Zukunft Libyens ab.

Worin könnten diese internen Gründe bestehen?

Der erste Grund könnte sein, dass die Mobilisierung, die Gaddafi durchführen ließ – inklusive Bewaffnung der Bevölkerung –, in irgendeiner Art und Weise rückgängig gemacht werden muss, um wieder zu einer einigermaßen geordneten Lebenssituation zu führen. Das sehe ich angesichts der ja auch drohenden ökonomischen Schwierigkeiten schwer gegeben. Es wird eine ähnliche Situation wie im Irak 1991 nach den UN-Sanktionen. Die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln wird sich sehr verschlechtern. Dass das System Gaddafi das noch schultern kann, wage ich zu bezweifeln.

Sehen Sie die Gefahr eines langfristigen Kriegs?

Sicher die Gefahr einer langwierigen militante Auseinandersetzung. Ob das wirklich zu einer dauerhaften Kriegssituation wird, hängt davon ab, ob die Gaddafi-Truppen überhaupt noch über die notwendige Logistik verfügen. Das muss man abwarten.

Sie haben sich in anderem Zusammenhang dagegen gewandt, überhaupt vom Bürgerkrieg in Libyen zu sprechen, was von Relevanz ist, weil die völkerrechtliche Diskussion ja sich eben um diesen Begriff dreht.

Wenn es ein Bürgerkrieg wäre, dürfte nach Satzung der Vereinten Nationen keine direkte Intervention stattfinden. Dann müsste Neutralität bewiesen werden. Hier handelt es sich aber sicherlich nicht um zwei Konfliktparteien, die innerhalb einer Gesellschaft entstanden sind, sei es aus ethnischen, sei es aus politischen Gründen, sondern es sind zwei völlig verschiedene Parteien: Auf der einen Seite die libysche Zivilgesellschaft, die gezwungen wurde, sich zu bewaffnen; auf der anderen Seite ein etwas skurriles Regime, das letztendlich die Legitimität im eigenen Land schon seit Jahren verloren hat.

Wie beurteilen Sie die Reaktion der Öffentlichkeit in den arabischen Ländern mit starken, manchmal schon siegreichen demokratischen Bewegungen in Bezug auf die westliche Intervention?

Die Medien berichten vor allem über kritische Äußerungen. Es gibt aber auch viele relativ positive Stellungnahmen, überraschenderweise auch von islamistischen Verbänden, etwa von den Muslimbrüdern in Ägypten. Die arabische Welt ist gespalten. Man kann die Reaktion der Zivilgesellschaft in Ägypten gegen die Intervention verstehen. Es wurde ein sehr positives Image der Zivilrevolte aufgebaut. Dass diese Revolte sich jetzt militarisiert, dass sie gezwungen ist, zu den Waffen zu greifen, widerspricht im Grunde dem Image des ganzen Projekts, wie es sich seit Januar abzeichnet.

Welche Schichten tragen eigentlich die arabischen Revolutionen?

Es ist die untere Mittelschicht, junge Kleinunternehmer, "Ich-AGs". Leute, die individuell versuchen, ihre Zukunft zu gestalten. Die sind zwischen 15 und 35 Jahre alt, stellen etwa vierzig Prozent der Bevölkerung. Darunter sind sehr viele Frauen im Berufsleben, die jetzt ihr politisches Forum gefunden haben.

Wo stünde Libyen auf einer Skala zivilgesellschaftlichen Engagements?

Eher in der Mitte. In Tripolitanien würden sich wohl zwanzig Prozent der Bevölkerung mit dem Konzept der Zivilgesellschaft identifizieren. Im Osten sehr viel mehr.

Welche Rolle spielt der Generationenkonflikt. Ist es ein Aufstand der Jungen gegen die Gerontokratie?

Ja, unbedingt. Drei bis fünf Prozent der Bevölkerung dominieren das gesamte politische Geschehen. Die Jungen revoltieren gegen das überkommene System aus dem Kalten Krieg, das aus dieser weltpolitischen Situation seine Legitimation zog. Dieser Generationenkonflikt besteht übrigens auch in den islamistischen Gruppen.

Wie kann man die Rolle radikaler Islamisten überhaupt einschätzen?

Die alten Verbände, die Muslimbrüder etwa, sind definitiv die zweiten Verlierer des ganzen Prozesses. Sie waren die Opposition im alten Staat, die Gegner des "Pharaos". Jetzt ist der weg und damit auch ihr Profil der Gegnerschaft. Mit der Revolte jetzt sind keine religiösen Versprechen verbunden. Die Leute haben verstanden, dass Religion zwar wichtig ist für die öffentliche Moral, aber keine Arbeitsplätze bringt. Die Religiösen sollen karitativ tätig sein, das wird anerkannt. Aber daraus lassen sich keine Machtansprüche in der Gesellschaft mehr ableiten.

Das klingt nach einem säkularisierten Islam.

Die Religion geht zurück in die Moschee. Das sind deutlich säkulare Phänomene, vor allem in Ägypten und Tunesien. Viele Umfragen zeigen schon seit zwanzig Jahren, dass zwei Drittel der Gesellschaft mit der Hoffnung auf Säkularität lebt, ohne dass daraus ein politisches Programm hervorgegangen wäre - bis eben jetzt.

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