Deichkind-Operette: Dada unter der Gin-Tonic-Dusche

Es herrscht Remmidemmi, ein Aufstand auf der Bühne. Denn die Band Deichkind und viele Gäste spielen "Deichkind in Müll". Eine "Diskurs-Operette".

Deichkind war auch vorher schon bekannt für ihre bizarren Auftritte wie hier in Wien Ende 2009. Bild: dpa

Erst einmal passiert nichts, gar nichts. Gefühlte 20 Minuten. Dann erschienen die bekannten Symbole auf der Bühne des Kampnagel in Hamburg: Blinkende Pyramiden-Masken. Fans wissen was jetzt kommt - Stille ist es nicht. Doch was mit der Diskurs-Operette "Deichkind in Müll" folgt, ist ein universeller Kulturschock für Fans, Theatergänger, Eltern, Freunde und Bandmitglieder. Alle haben etwas erwartet. Aber etwas anderes.

Trampoline, Hüpfburgen, Springstäbe - Der Song "Aufstand im Schlaraffenland" beginnt wie auf den großen Konzerten der Hamburger Techno-Satire-Band Deichkind. Doch die Performance findet ohne Ton, ohne Kostüme statt. Was bleibt vom schönen schrillen Schein ist ein überraschend bewegendes Bild und die Frage nach dem Phänomen Deichkind. Denn hier geht es nicht nur um Musik, es geht um das Versprechen von Freiheit, Ekstase, Phantasie, Spaß und den Ernst des Lebens. "Deichkind verkauft Emotionen" - so benennt es Henning Besser, besser bekannt als DJ Phono.

Für die kleine Schwester der Oper bedienten sich die vier Musiker großer Gesten, Worte und Bilder - und betrieben Recycling ihrer Bühnenshow: "Müll ist etwas Großartiges. Wir fragen uns: Wo siehst du den Wert? Was ist wertvoll? Das ist das Schöne an Müll, der eine schmeißt ein Teil weg, der nächste findet es geil, eine Art demokratische Gesellschaftsform ist das", so DJ Phono im taz-Interview.

Deichkind ist bekannt dafür, Grenzen zu überschreiten: Die zwischen Konzert und Happening, und die des guten Geschmacks. So treten sie schon mal vor 20.000 Zuschauern auf und bringen ihr Publikum dazu, gleichzeitig durchgeschüttelte Bierdosen zu öffnen. Gekonnt spielen sie mit Klischees, brechen und beugen sie nach Belieben. "Hört ihr die Signale": "Ein Hoch auf die internationale Getränkequalität! Ein Hoch auf die Säufer-Solidarität" - Eine eindeutige Zuordnung in Gut und Böse ist kaum möglich, auch das politische Koordinatensystem wird gebrochen: "Kein Mensch ist illegal - vor allem, wenn er breit ist." Für die Operette überschritten die Hamburger die Grenze zwischen Pop- und Hochkultur: Die Band wurde zum Ensemble, wuchs auf 20 Mitglieder an und probte in den vergangenen Wochen den Aufstand - mit Unterstützung der Kulturstiftung des Bundes.

In der Kulturfabrik Kampnagel spielten sie vor gerade einmal 1.200 Zuschauern pro Abend. Bestuhlt, mit nummerierten Plätzen, lediglich die ersten Reihen waren Stehplätze - eine Reminiszenz an die wohl bekannte Konzertsituation: Die perfekte Kulisse für Remmidemmi mit Volkstheater-Einlagen. Libretti wie "Deine Eltern sind auf einem Tennisturnier, du machst eine Party, wie nett von dir. Impulsive Menschen kennen keine Grenzen! Schmeiß die Möbel aus dem Fenster, wir brauchen Platz zum dancen!" schreien nach Brechung. Der Text entstammt dem Stück "Yippie Yippie Yeah". Die Remmidemmi-Fahne - bekanntes Konzert-Accessoire - erinnerte Regisseur Ted Gaier, Mitglied der Punk-Band "Die Goldenen Zitronen", an Eugène Delacroix` Gemälde der Französischen Revolution" - die Szene geriet zum "tableau vivant".

Aber "Deichkind in Müll" arbeitete nicht nur mit lebenden Bildern. Für ihre Operette betrieben die Deichkinder auch Grundlagenforschung. Bei einer klassischen Familienaufstellung unter Anleitung einer Therapeutin stellten sie sich der "Ferris-Frage": Wo ist der Platz von Ferris MC als zuletzt hinzugekommenes Bandmitglied? In diesem Moment kam endlich der Diskurs ins Spiel: An einer der Bühne vorgelagerten Tafel fragte Ted Gaier in die zwölfköpfige Runde - nicht nur Jünglinge und Jünger, sondern auch Frauen - nach dem unterschiedlichen (Geld-)Wert der Arbeit. Das Stück "Arbeit nervt" performten darauf die Frauen des Ensembles - mit Müllsack und Helm unkenntlich gemacht, stellte sich auch hier die Frage der Austauschbarkeit.

Trotz einer Dauer von fast drei Stunden und so manch grenzüberschreitendem Blick hinter die Kulissen, auf die Rückseite der Show, die Zitze - Showtreppe und Gin-and-Tonic-Dusche - war die Operette selbstreferentiell. Der Diskurs blieb im Ansatz verhaftet, das Phänomen der Band ungelöst. Deichkind ist Dada, ist Kunst - eine Diskurs-Operette braucht es dazu nicht. In illustrer Gesellschaft wäre "Deichkind in Müll" in London. Dort läuft zurzeit die Ausstellung "Art Bin" von Michael Landy: Ein riesiger Plexiglascontainer dient als Müllkippe schöpferischer Visionen - mehr als 300 Arbeiten wurden bereits hinein geworfen, unter anderen Werke von Damien Hirst und Tracey Emin - Kunstrecycling de luxe.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.