Kommentar Sozialproteste: Schlechter Zeitpunkt

Die Gewerkschaften zurück und rufen allenfalls lokal zu Protesten auf. Die eigene Klientel ist kaum von den geplanten Einsparungen betroffen. Diese Haltung ist mehr als kurzsichtig.

Wie verabschiedet man ein Sparpaket, ohne damit in der Bevölkerung allzu große Proteste zu riskieren? Das ist eine Frage, auf die viele Regierungen gern eine Antwort hätten. Die Bundesregierung hat dabei ein sicheres Gespür an den Tag gelegt - sowohl was den passenden Augenblick als auch was das Bündel von Maßnahmen betrifft, das am wenigsten Widerstand zu provozieren droht.

Zum einen profitiert die Regierung davon, dass derzeit eine Fußballweltmeisterschaft nicht nur die Nachrichten, sondern auch den Alltag vieler Menschen beherrscht. Einen besseren Zeitpunkt hätte sie kaum wählen können, um den erwartbaren Protesten von vornherein den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Hinzu kommt, dass viele der geplanten Sparmaßnahmen vor allem jene Bevölkerungsteile betreffen, die nicht in klassischen Institutionen - wie etwa in Gewerkschaften - organisiert sind. Das erschwert eine schnelle Mobilisierung zu Protesten. Gleichzeitig wurden die stärker organisierten Teile der Bevölkerung verschont. Die Steuerfreiheit von Nacht- und Sonntagszuschlägen wurde nicht angetastet, weil sonst die Arbeitnehmerverbände ganz schnell auf der Straße gewesen wären. Dass hingegen das Elterngeld für Hartz-IV-Bezieher gestrichen werden soll, juckt die meisten Beschäftigten kaum: Die Solidarität mit Arbeitslosen hält sich bei vielen in engen Grenzen.

ist Redakteurin im Berlin-Teil der taz.

Zum Vergleich: Als eine Bundesregierung das letzte Mal ein großes Sparpaket beschloss, reichte die Liste der Streichvorschläge von Einschränkungen des Kündigungsschutzes bis zur reduzierten Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Dagegen gingen 1996 allein in Bonn Hunderttausende auf die Straße. Kein Wunder, denn fast jeder Beschäftigte war davon betroffen. Nun aber halten sich die Gewerkschaften zurück und rufen allenfalls lokal zu Protesten auf. Schließlich ist die eigene Klientel kaum von den geplanten Einsparungen betroffen.

Diese Haltung ist mehr als kurzsichtig. Denn nimmt man die Entwicklung ihrer Mitgliederzahlen als Maßstab, dann lässt die Attraktivität von Gewerkschaften derzeit eher nach. Dagegen können die Gewerkschaften nur angehen, indem sie soziale Verantwortung für die gesamte Gesellschaft übernehmen - also auch für diejenigen, die sich nur schwer organisieren können.

Wer erst dann auf die Straße geht, wenn er die eigenen Pfründen bedroht sieht, wird feststellen, dass es dann schon zu spät sein könnte. Denn wer sich als Arbeitnehmer heute in Sicherheit wähnt, kann morgen schon arbeitslos sein.

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schreibt über vernetzte Welten, digitale Wirtschaft und lange Wörter (Datenschutz-Grundverordnung, Plattformökonomie, Nutzungsbedingungen). Manchmal und wenn es die Saison zulässt, auch über alte Apfelsorten. Bevor sie zur taz kam, hat sie unter anderem für den MDR als Multimedia-Redakteurin gearbeitet. Autorin der Kolumne Digitalozän.

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