Flüchtlingsleben: Wertmarken als Stigma

Flüchtlinge in Hennigsdorf boykottieren die Ausgabe von Gutscheinen. Von 200 Euro monatlicher Grundsicherung werden ihnen seit Jahren nur 40 Euro in bar ausgezahlt.

Flüchtlinge empfinden es als stigmatisierend, wenn sie an der Supermarktkasse mit Gutscheinen bezahlen müssen. Bild: AP

Kisten und Kartons stapeln sich im Hennigsdorfer Flüchtlingsheim. Darin Kartoffeln, Ananas, Kaffee, Reis, Brote, Apfelschorle - herangeschafft von einer lokalen Flüchtlingsorganisation. Streiknahrung. Denn seit Mittwoch stehen die Hennigsdorfer Asylbewerber ohne Geld da - sie boykottieren die ihnen ausgehändigten Wertgutscheine. Am Freitagnachmittag soll mit einer Kundgebung auf dem städtischen Postplatz der Druck auf den Landkreis verstärkt werden.

Zum Boykottauftakt am Mittwochmorgen versammeln sich rund 100 Asylbewerber und Unterstützer vor dem Tor des Flüchtlingsheims - ein grauer, früherer Kasernenklotz am Hennigsdorfer Stadtrand. "Gutschein", ruft Marion, eine junge Kenianerin, in ein Megafon. "Abschaffen", rufen die anderen zurück. An den Zaun hängen sie Transparente: "Weg mit dem Gutscheinsystem". Afrikanische Frauen singen, eine junge Alternative spielt Akkordeon. Der Wachtmeister des Heims trippelt unruhig umher. Einen Streik hat er hier noch nicht erlebt.

Seit Jahren erhalten Asylbewerber im Landkreis Oberhavel, nördlich von Berlin, von ihrer monatlichen Grundsicherung in Höhe von rund 200 Euro nur 40 Euro ausgezahlt. Den Rest gibt es in Wertgutscheinen. "Eine Diskriminierung", findet Marion. Nur in wenigen Geschäften könnten sie damit einkaufen, klagen die Asylbewerber. Medikamente, Anwälte oder Bahnfahrten seien mit den Gutscheinen nicht zu bezahlen. Wechselgeld würde oft nicht herausgegeben, die Coupons verfielen nach kurzer Zeit. "Immer wieder haben wir gebettelt, jetzt streiken wir", sagt Marion. Rund die Hälfte der Heimbewohner habe dem Boykott zugestimmt.

Als am Mittwoch vier Mitarbeiter des Sozialamts, wie stets zu Monatsanfang, die Gutscheine im Flüchtlingsheim verteilen wollen, müssen sie sich durch die Protestierermenge drängeln. "No Gutschein, no Gutschein", rufen ihnen die Asylbewerber entgegen. Einige zerreißen alte Wertmarken mit Cent-Beträgen. Eine erste kleine Sitzblockade räumen die anwesenden Polizisten, eine zweite lassen sie in Ruhe. Im Heim sagen die Behördenmitarbeiter schließlich die Gutscheinausgabe ab. Wie eine Trophäe tragen die Flüchtlinge den Hinweiszettel zum Tor: "Heute keine Auszahlung". Jubel und Applaus branden auf.

Neben Oberhavel geben nur noch vier von 18 Landkreisen in Brandenburg Gutscheine an Flüchtlinge aus. Barnim schaffte die Wertmarken Anfang Mai ab. In Berlin beschloss der Senat bereits 2003, nur noch Bargeld an Flüchtlinge auszuzahlen.

In Oberhavel aber hält Landrat Karl-Heinz Schröter (SPD) - gegen den Willen seiner Hennigsdorfer Parteikollegen - an den Gutscheinen fest. Kreissprecherin Irina Schmidt verweist auf "geltendes Bundesrecht". Man sei verpflichtet, den 184 Asylbewerbern im Landkreis vorrangig Sachleistungen zu gewähren. Der Protest am Mittwoch könne an dieser Praxis nichts ändern.

Die rot-rote Landesregierung sieht das anders, verweist auf "Spielräume". Erst vor wenigen Wochen verabschiedete der Landtag einen Beschluss, sich im Bundesrat dafür einzusetzen, Sachleistungen für Asylbewerber gänzlich "abzuschaffen".

"Der Landkreis hat längst keine Argumente mehr", kritisiert die Linke-Landtagsabgeordnete Gerrit Große. Das Festhalten an den "menschenunwürdigen Gutscheinen" sei "starrsinnig". Auch Beate Selders vom Brandenburger Flüchtlingsrat kritisiert die Coupons als "überholt und stigmatisierend".

Asylbewerberin Marion ist zuversichtlich, dass der Protest wirkt. Wenn das Sozialamt die Verteilung der Gutscheine in der kommenden Woche nachholen will, werde man dies erneut boykottieren. "Unsere Unterstützer haben uns versichert, dass wir nicht hungern müssen."

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