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Archiv-Artikel

DVDESK Das Blut, die Lust, die Reißzähne

Jaromil Jires: „Valerie. Eine Woche voller Wunder“. Tschechoslowakei 1969 (Bildstörung, ca. 17 Euro)

Jaromil Jires setzt, von oft sehr schroffen Schnitten getrennt, ein Rätselbild an das nächste. Eines ist schöner als das andere

Die Ohrringe haben magische Kräfte: Darum lässt der Wachtmeister, der ein Iltis ist, ein Vampir und ein Teufel, sie stehlen. Er sei der Vater von Valerie (Jaroslava Schallerova), heißt es. Der junge Mann, der die Ohrringe stiehlt, ist Horliku, des Wachtmeisters Sohn, Valeries Bruder vielleicht, ein sanfter Mensch, der auch schöne Musik macht. Der Wachtmeister hat eine hässliche Fratze, schiefe Zähne, er ist die schreckenerregende Verkörperung männlicher Lust. Um diese vor allem geht es und um Frauen, junge und alte, die mit Staunen und Schrecken auf das Begehren der Männer reagieren.

Valerie ist dreizehn und hat zu Beginn des Films ihre erste Menstruation. Die Welt der Wunder, die der Film in der Folge entfaltet, ist eine zwischen sexuellem Raubtierdasein der Männer und unvermitteltem Gestaltwandel aller Menschen und Dinge. Zwischen Softcore-Erotik, „Nosferatu“ und Defa-Märchenfilm bewegt sich der auch im Werk des Jaromil Jires.

Einem ständigen Stimmungswechsel unterliegt die Atmosphäre, die Jires mit unangestrengt kunstvollen Bildkompositionen schafft, bevorzugt im Close-up von Gegenständen und auch von Gesichtern. Die Musik des hoch angesehenen Komponisten Lubos Fiser, die mal von der Kirmes und mal aus einer eigenwillig anverwandelten Klassik kommt, tut das ihre entscheidend dazu. Zugrunde liegt ein in den Zwanzigerjahren entstandener Roman des tschechischen Surrealisten Vitezslav Nezval, der sich lustvoll aus der Fundgrube gotischer Schauer- und Märchenmotive bedient. Jedoch ist „Valerie“ ein Märchen eher nach Art des Franzosen Charles Perrault als der Brüder Grimm, die explizite Sex- und Gewaltelemente gern aus dem Vorder- in den Hintergrund ihrer Versionen räumten. Hier nämlich ist alles ständig präsent: das Blut, die Lust, die Reißzähne, die Kräfte der Verführung, das Licht und die Finsternis. (Der schlimmste Dunkelmann ist ein Priester. Er lässt Valerie, die das wundersam überlebt, als Hexe verbrennen.)

Valerie lebt in einem verwunschenen Reich der Wunder und nicht zuletzt der Symbole. Jedes Ding, vom Iltis bis zum Ohrring, steht fraglos für etwas. Das beglückend Verwirrende ist, dass eine klare Bedeutung der eher frei flottierenden als auf Verdichtung und Verschiebung zu reduzierenden Symbolik nicht auszumachen ist. Mehr wie im Traum als in Freuds Traumtheorie nagelt man den Vampir, die Großmutter, den Ohrring, die Perle nicht einfach auf dies oder jenes ein für alle Mal fest. Allesamt sind sie Shapeshifter der nicht stillzustellenden Art. Jaromil Jires setzt, von oft sehr schroffen Schnitten getrennt, ein Rätselbild an das nächste, von denen eines schöner als das andere ist. Je stärker man sich dem Fluss nicht der Geschichte , sondern der Bilder und Töne einfach überlässt, desto mehr hat man Teil an der Welt, wie Valerie sie sieht und erlebt.

EKKEHARD KNÖRER