: Wer heilt, hat recht
GESUNDHEIT Droge, Mörderkraut: Die Heilpflanze Hanf wurde einst in die Illegalität gedrängt. Obwohl viele aktuelle Studien die medizinische Effizienz des Cannabiswirk- stoffs THC belegen, verbleibt sie dort noch immer
VON MATHIAS BRÖCKERS
Mancher Schad ist nicht zu heilen / durch die Kräuter dieser Welt / Hanf hat viel verzweifelt Böses / gut gemacht und abgestellt.“ Die Brüder Grimm hatten einen guten Grund, dieses Sprichwort 1828 in ihr „Deutsches Wörterbuch“ aufzunehmen.
Als Heilkraut war die Hanfpflanze eine Selbstverständlichkeit in deutschen Arzneibüchern und Hausapotheken. Die medizinischen Eigenschaften des Hanfs waren überall auf der Welt seit Jahrtausenden bekannt, im antiken China, im Römischen Reich. Auch für die Ärzte des Mittelalters wie Paracelsus oder Hildegard von Bingen war Hanf zur Lösung von Krämpfen, Linderung von Schmerzen und vielen weiteren Indikationen stets erste Wahl.
Die mit dem Scheitern der Alkoholprohibiton Anfang der 1930er Jahre in den USA als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für die Kontrollbehörden inszenierte Kampagne gegen das „Mörderkraut Marihuana“ leistete dann allerdings ganze Arbeit – das medizinisch-pharmazeutische Wissen verschwand von nun an aus sämtlichen Lehrbüchern.
Als ich Anfang der 1990er Jahre mit Jack Herer das Buch „Die Wiederentdeckung der Nutzpflanze Hanf“ herausgebracht hatte, das viele Informationen und Dokumente über die medizinische Bedeutung der Pflanze enthielt, bekamen wir zahlreiche Anfragen von Ärzten und Pharmazeuten, die von diesen Wirkungen noch nie gehört hatten – und das Ganze für einen Schwindel hielten. Cannabis war in den Gehirnen und Datenbanken schlicht unter dem Stichwort „Rauschgift“ abgebucht. Verdrängt und vergessen war, dass es sich um eine der wertvollsten Heilpflanzen handelt.
Dies hat sich seitdem, zumindest auf wissenschaftlicher Seite, dramatisch geändert; rechtlich zählt Cannabis zwar nach wie vor in den meisten Ländern zu den verbotenen Drogen, aufseiten der medizinisch-pharmazeutischen Forschung aber gibt es kaum einen Pflanzenstoff, der international mehr Aufmerksamkeit erfährt als die Cannabinoide, allen voran der Hauptwirkstoff des Hanfs, Tetrahydrocannabinol (THC).
Der Grund für diesen Boom liegt in der Entdeckung körpereigener THC-artiger Stoffe, der sogenannten Anandamide, Ende der 1980er Jahre und der darauf folgenden Identifizierung von Rezeptoren im Nervensystem, die genau auf diese Transmitter zugeschnitten sind. Nicht nur beim Menschen, sondern bei allen Säugetieren spielen diese hanfähnlichen Stoffe die zentrale Rolle im System des „Futterns und Fütterns“, schon in der Muttermilch sorgt so ein hoher Cannabinoidanteil dafür, dass Appetit-und Verdauungssystem des Säuglings angeregt werden.
Als der Harvard-Professor Lester Grinspoon erlebte, wie sein Sohn nach einer Krebs-Chemotherapie, die regelmäßig extreme Übelkeit verursachte, plötzlich Appetit auf einen Hamburger hatte, weil seine Frau ihm heimlich zuvor etwas Marihuana zu rauchen gegeben hatte, gab er seine Vorurteile gegen das „Rauschgift“ auf und wurde zu einem Pionier der Marihuana-Medizin.
Die Liste der klinischen Studien, bei denen mit Cannabinoiden signifikante Heilerfolge erzielt wurden, ist ebenso vielfältig, wie es die Symptome und Krankheiten sind, bei denen diese Stoffe eingesetzt wurden: neben den bereits erwähnten Effekten der Appetitanregung und Übelkeitshemmung unter anderem Multiple Sklerose, Spastik, Migräne, Rheuma und chronische Schmerzen. Gerade in der Palliativmedizin, die bis vor nicht allzu langer Zeit nach dem Wehrmachtsmotto: „Ein deutscher Mann kennt keinen Schmerz“ in Deutschland sehr vernachlässigt wurde, könnte der Hanfmedizin eine große Karriere bevorstehen. So wurde in mehreren kontrollierten Studien etwa erwiesen, dass die Opiatdosis bei Schmerzpatienten deutlich reduziert werden kann, wenn zuvor THC gegeben wird.
Mehrere Studien, zuletzt die an der Universität Madrid 2009, haben gezeigt, dass Cannabinoide das Wachstum „bösartiger“ Zellen blockieren und so Krebstumoren an der Ausbreitung hindern und ihr Wachstum reduzieren. Auch bei einem anderen bis dato unheilbaren Leiden, der Alzheimer-Krankheit, hat sich THC in ersten Studien als wirksames Gegenmittel erwiesen: Bei erkrankten Tieren wie bei Menschen wurden verbesserte Gedächtnisleistungen festgestellt. Die Forscher führen dies auf den entzündungshemmenden Effekt von THC zurück und beobachten darüber hinaus, dass das Wachstum neuer Gehirnzellen durch THC angeregt wird.
Wer die umfangreiche Liste der aktuellen medizinisch-pharmazeutischen Forschungsergebnisse in Sachen Cannabis-Medizin studiert (www.cannabis-med.org), kann sich nur wundern, dass der natürliche Stoff, um den es hier geht, nach wie vor als „nicht verkehrsfähiges Betäubungsmittel“ gilt. Doch dieses Missverhältnis zeigt nur den durchschlagenden Erfolg, den die „Mörderkraut“-Propaganda seit nunmehr 70 Jahren immer noch hat – und der die ängstlichen Cannabinoid-Forscher in ihren Veröffentlichungen oft zu einem Disclaimer hinreißt, der besagt, dass ihre Ergebnisse über die segensreiche Wirkung des Cannabiswirkstoffs nun nicht bedeuten, dass man nur ein bisschen kiffen müsse, um Krebstumoren, MS-Krämpfe oder chronische Schmerzen zu bekämpfen.
Und doch ist es genau das, was vielen Patienten durchaus ausreicht und ihnen mehr Lebensqualität verschafft als all die anderen Medikamentierungen, die sie im Rahmen ihrer Krankheitsgeschichte schon durchgemacht haben. Aber ebendiese Therapie mit dem natürlichen Kraut ist in Deutschland nach wie vor verboten, nur synthetisch hergestelltes THC („Dronabinol“) ist seit 1996 als Arzneimittel wieder zugelassen – und kostet bis zu fünfzigmal mehr als THC aus natürlichen Cannabisprodukten wie Marihuana oder Haschisch. Da die Krankenkassen nicht verpflichtet sind, die Kosten zu übernehmen, können für einen chronischen Schmerzpatienten Kosten von über 500 Euro im Monat entstehen – für ein Heilmittel, das für einen Bruchteil dieses Geldes auf dem Balkon oder im Garten gewonnen werden könnte.
Die im Sommer 2010 von der schwarz-gelben Regierung als Reform gefeierte Umstufung von Cannabisprodukten, nach der künftig nicht nur der reine Wirkstoff „Dronabinol“, sondern auch cannabishaltige Medikamente als Arzneimittel zulassungsfähig sind, ist insofern kaum mehr als ein Etikettenschwindel, denn diese Zulassung gilt nur, wenn ein pharmazeutisches Unternehmen den Antrag stellt. Für Patienten, die sich mit Hanfblüten von eigenen Pflanzen oder vom Schwarzmarkt versorgen wollen, ändert sich dadurch gar nichts. Sie bewegen sich nach wie vor in der Illegalität und sind auch durch die Ausnahmegenehmigungen, die Gerichte nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2004 in schweren Fällen erteilen müssen, nur unzureichend geschützt.
So wurde im November 2011 in Hessen bei einem Mitglied der „Selbsthilfegruppe Cannabis“ eine Hausdurchsuchung mit Beschlagnahmung von Cannabispflanzen und Equipment zum Anbau durchgeführt, obwohl dieser Patient über eine Ausnahmeerlaubnis verfügte. Weil er sich den Bezug über eine Apotheke finanziell nicht leisten konnte, hatte er sich durch Eigenanbau teilweise selbst versorgt.
Solche Schikanen gegen schwer erkrankte Menschen werden auch künftig weiter zum Alltag einer Gesundheitspolitik gehören, die nicht vom Wohl der Patienten, sondern von den Maßgaben eines irrationalen Drogenkriegs und den Profitinteressen der Pharmaindustrie gesteuert ist. Selbst in den USA, dem Mutterland der Hanfprohibition und des „War On Drugs“, haben Volksabstimmungen in 16 Bundesstaaten diesem Skandal mittlerweile ein Ende gemacht und gesetzliche Regelungen für den Selbstanbau und Besitz von „Medical Marihuana“ erlassen.
Auch eine Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland stimmt laut jüngsten Umfragen einer solchen Freigabe zu. Die „Bundesopiumstelle“ freilich waltet ungerührt ihres Amtes und zerrt weiter Schwerkranke vor Gericht, die sich selbst mit der Medizin versorgen, die ihnen eine diktatorische, inhumane Gesetzgebung verweigert.
■ Der Autor: Bröckers gab 1993 „Die Wiederentdeckung der Nutzpflanze Hanf“ heraus. Zuletzt erschien zum Thema: „Die Drogenlüge. Warum Drogenverbote den Terrorismus fördern und Ihrer Gesundheit schaden“ (Westend, 2010)