: „Bipolar gestört? Sie sind so was von normal“
IRRE Ein Mal pro Woche zu viel essen? Gilt bald auch als psychische Störung. Dabei bräuchten wir weniger, nicht mehr Krankheiten, findet der amerikanische Psychiater Allen Frances. Aber verlangen wir nicht auch irgendwie danach?
■ Leben: Frances wurde 1942 in New York geboren. Um seine Frau bis zu ihrem Tod zu pflegen, ging er früh in Rente. Heute lebt er mit seiner Lebensgefährtin in Coronado, Kalifornien. In der Nähe von Strand und fünf Enkeln.
■ Arbeiten: Die New York Times nennt Frances den einflussreichsten Psychiater der USA. Er lehrte an der Duke University in North Carolina und war maßgeblich an der Entwicklung der psychiatrischen Standardwerke DSM-3 und DSM-4 beteiligt. Gerade erschien sein Buch „Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen“.
GESPRÄCH MARIA ROSSBAUER
Allen Frances steht in der Aufzugtür eines Berliner Hotels, braun gebrannt, zwei Brillen auf der Nase, den Blick aufs Blackberry. Er sieht kurz hoch. „Sind Sie die Nächste?“ Genau, fürs Interview. Frances ist einer der bedeutendsten Psychiater der Welt. Am 22. Mai wird das neue psychiatrische Handbuch namens DSM-5 erscheinen. Daran orientieren sich Ärzte, Gerichte und Schulen, um Menschen als normal oder psychisch krank einzustufen. Frances verantwortete die Vorgängerversion. Nun bekriegt er das neue Buch.
sonntaz: Herr Frances, in Deutschland scheinen in letzter Zeit alle entweder Depressionen oder Burn-out zu haben, und die Kinder haben ADHS. Was ist da los?
Allen Frances: Was da los ist? Das System der psychiatrischen Diagnosen ist viel zu beliebt geworden. Wann immer Sie lesen, dass es eine Zunahme einer Störung gibt, haben sich nicht etwa die Menschen verändert, sondern die Bezeichnungen.
Wir werden also nicht alle gestörter?
Das glauben einige. Stress, lange Arbeitszeiten, die Fesseln am Computer. Es gibt aber keine bessere Zeit in der Geschichte als jetzt. Keinen besseren Ort zu leben als Berlin oder New York oder San Diego.
Trotz Finanzkrise, Klimakrise und all unserer Krisen?
Die Menschen in Deutschland erlitten unvorstellbare Belastungen während des Ersten und des Zweiten Weltkriegs. Unsere Vorfahren mussten in den vergangenen 150.000 Jahren jeden Tag Nahrung finden, mussten vor Tigern fliehen. Wer denkt, wir hätten die härtesten Probleme, mit denen Menschen jemals konfrontiert waren, und dass deshalb so viele von uns eine psychiatrische Erkrankung haben – nein, wirklich nicht.
Der Druck ist heute anders, ökonomischer. Die Angst vorm sozialen Abstieg etwa.
Es ist eine falsche Etikettierung. Wir bezeichnen normale Probleme als psychiatrische Erkrankung. Dinge, die einfach zur menschlichen Existenz gehören.
Sie bekämpfen jetzt das neue psychiatrische Handbuch, das amerikanische DSM-5, das auch in Deutschland großen Einfluss hat. Es wird darin wieder mehr Störungen geben. Aber führen mehr Störungen zwangsläufig zu mehr Diagnosen?
Es geht um die Art, wie die Störungen definiert sind. Es wurden Störungen mit aufgenommen, die an der Grenze zur Normalität liegen. Störungen, die es davor nicht gab. Nehmen wir „Binge-Eating-Disorder“. Wenn das Handbuch raus ist, wird es diagnostiziert werden. Es bedeutet, ein Mal die Woche zu viel zu essen, und das über 12 Wochen. Ich habe das sicher auch, wie 5 bis 10 Prozent der Bevölkerung. Das wären 10 bis 15 Millionen Amerikaner, die dann plötzlich eine Störung haben.
Wie entsteht so eine Modediagnose – ADHS etwa?
In Kanada gab es zu ADHS eine unglaubliche Studie. 10.000 Kinder wurden untersucht. Heraus kam: Den größten Einfluss darauf, ob etwa ein Junge mit ADHS diagnostiziert wurde, hatte der Monat seiner Geburt. Jungs, die im Januar geboren wurden, hatten doppelt so häufig ADHS wie Jungen, die im Dezember geboren wurden. Der 1. Januar war der Einschulungsstichtag. Das bedeutet, der Jüngste in der Klasse wurde doppelt so häufig mit einer psychiatrischen Erkrankung diagnostiziert wie der Älteste. Wir haben die Tatsache, dass jüngere Menschen aktiver sind, zu einer Krankheit gemacht.
Auch ich war als Kind, etwa mit fünf, wahnsinnig wibbelig und aktiv, bin überall hochgeklettert und runtergefallen, hatte Wunden und blaue Flecken. Ich habe oft laut rumgeschrien, hatte Wutanfälle, meine Mutter sagt, man konnte mich gar nicht mehr beruhigen …
Dem neuen Psychiatrie-Handbuch zufolge hätten Sie eine Diagnose.
Und die wäre?
„Disruptive Mood Dysregulation Disorder“, so lautet die neue Bezeichnung für Wutausbrüche. Es gibt so gut wie keine Forschung dazu. Man würde Ihnen Medikamente geben, Neuroleptika. Davon würden Sie 10 Prozent Ihres Gewichts zunehmen. Um Sie zu beruhigen, würde man Sie dick machen.
Und dann?
Fettleibigkeit in der Kindheit kann zu Diabetes führen, später zu Herzkrankheiten und wahrscheinlich zu einer kürzeren Lebenserwartung. Wir wissen aber bei keinem der Medikamente, die Kinder bekommen, was die Langzeiteffekte sind. Das ist ein Experiment mit der Gesundheit der Bevölkerung.
Was machen die Medikamente mit einer Persönlichkeit?
Das ist komplett unbekannt. Aber schon allein wenn Sie krank sind und Medikamente nehmen müssen, werden andere Sie und Sie sich selbst anders sehen. Sie haben ein Stigma. Sie sind dann nicht mehr normal. Ihre Eltern und Freunde hätten dann womöglich gesagt: Vielleicht solltest du nicht wirklich darüber nachdenken, Journalistin zu werden. Vielleicht wagst du dich damit ein bisschen zu weit heraus. Vielleicht sollten wir dich ein bisschen anders behandeln. Vielleicht solltest du nicht aufs Gymnasium.
Sie glauben, ich würde dann heute nicht hier sitzen?
Tja. (Er hält ein paar Sekunden inne.) Das ist der Punkt. Ich weiß es nicht.
Aber meine Eltern haben mich glücklicherweise auch so, wie ich war, ertragen.
Das ist wunderbar. Lasst die Kinder doch Kinder sein. Habt Respekt für Unterschiede in der Entwicklung, davor, dass Kinder Individuen sind, und dass die meisten dieser Probleme sich von selbst erledigen.
In Deutschland nehmen etwa 7 Prozent der elfjährigen Jungs und 2 Prozent der Mädchen Ritalin.
So viele?
Ja.
Das ist verrückt.
Warum verschreiben Ärzte diese Medikamente so leicht?
■ Das Handbuch: Wer 1975 nur schüchtern war, konnte 1980 schon den Stempel „Soziophobiker“ erhalten. Denn da wurde die Störung in das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, das Handbuch DSM, aufgenommen. Bis heute wurden allein in den USA etwa 15 Millionen Menschen mit dem Label versehen.
■ Die Störungen: Auch neuere Phänomene wie die Essstörung „Binge Eating“ sind umstritten. Es ist aber noch nicht absehbar, ob auch das ICD, das international und in Deutschland gültige Klassifikationssystem, die Störung aus dem DSM aufnimmt. Das ICD erscheint 2015 in der elften Version.
Die meisten psychiatrischen Diagnosen werden nicht von Psychiatern gestellt, sondern von Allgemeinmedizinern oder Kinderärzten, die dafür oft nur ein paar Minuten haben. Ihr Wissen über Psychiatrie erhalten viele von Vertretern der Pharmafirmen. Die haben es so geschafft, unglaublich vielen Menschen glauben zu machen, dass sie oder ihre Kinder ein chemisches Ungleichgewicht in ihrem Gehirn haben, das eine Pille braucht.
Aber ist das nicht das eigentliche Problem: dass sie alle Medikamente nehmen? Psychiatrische Diagnosen an sich sind doch heute kein Stigma mehr.
Wenn Sie gesagt bekommen, Ihr Kind hat Autismus, oder Sie haben eine bipolare Störung, beurteilen Sie Ihr Leben plötzlich anders. Sie bekommen das Gefühl, Sie können weniger tun, oder Ihr Kind kann weniger leisten, Sie limitieren Ihren Horizont. Aber ziemlich oft, besonders bei Kindern, ist die Diagnose falsch. Wenn man den Stempel einmal bekommen hat, ist er enorm schwer wieder zu entfernen.
Menschen scheinen aber geradezu nach so einem Etikett zu verlangen. Wir gehen zum Arzt und wollen einen Namen für psychische Beschwerden und am besten eine Pille dagegen.
Ja, Ungewissheit ist für Menschen oft schwer zu ertragen. Wir denken oft, wenn wir den Dingen einen Namen geben, würde es das erklären. Aber normalerweise tut es das nicht. Namen benennen nur.
Auch Sie benutzen doch einen Begriff, den Sie retten wollen: normal. Es muss dann aber auch für diesen Begriff jemanden geben, der die Grenze zieht und sagt: Das ist normal und das nicht. Wer soll das sein?
Es gibt keine klare Linie. Es ist einfach festzustellen, wenn Leute schwere psychiatrische Störungen haben. Jeder kann dann eine Diagnose und die Behandlung finden. Das sind aber wenige, vielleicht 5 oder 10 Prozent der Bevölkerung. Wir diagnostizieren nun aber 25 Prozent der Leute. Und viele haben einfach die alltäglichen Probleme des Lebens. Die Definition von normal wird immer kompliziert sein und vom Umfeld abhängen.
Das heißt?
Wenn Sie in Afrika arbeiten, an einem Ort, wo es wenige Ärzte gibt, sehen dort viele Dinge okay aus, die überall sonst als abnormal gelten würden. Wenn Sie in New York City arbeiten, wo es zu viele Psychiater gibt, dann wird normal schwer zu finden sein. Aber wir wissen: Es gab einen dramatischen Anstieg der Diagnosen. Und der resultiert aus einem großen Einfluss der Pharmafirmen. Die sollten nicht entscheiden, wer normal ist, weil sie ein Interesse daran haben, alle zu überzeugen, dass sie krank sind – das ist jetzt sehr wichtig, schreiben Sie das in ihren Bericht.
Okay.
Pharmafirmen haben das größte Interesse daran, alle zu überzeugen, dass sie nicht normal sind. Das ist ein großer Markt. Und die meisten der Leute, die etwa Antidepressiva nehmen, reagieren auf den Placebo-Effect. Heißt: Die besten Kunden sind die, die das Produkt eigentlich nicht brauchen.
Aber solange wir keine Pillen nehmen: Vielleicht könnten alle einfach auch mit einer Diagnose normal sein. Dann wären wir ein Sammelsurium normal verrückter Menschen.
Ich würde eine Welt bevorzugen, in der nur Menschen, die ernste Probleme haben, diese Diagnosen bekommen. Die anderen Probleme des Lebens, Enttäuschungen, Trauer, Ängste, gehören zum menschlichen Zustand. Unsere Gefühle sind in uns, weil sie einen Nutzen für unser Überleben hatten. Sie sind Teil von uns. Das sind keine Krankheiten. Wir sollten Pillen gegen psychiatrische Störungen nehmen. Wir sollten keine Pillen dagegen nehmen, Menschen zu sein.
Aber jeder hat doch irgendwas. Die Leute gehen ins Internet und suchen sich ihre Diagnose selbst aus. Ich mache das auch. Ich glaube, ich bin ein bisschen bipolar gestört und mein Mann leicht zwanghaft.
Sie haben keine bipolare Störung. So was von nicht. Und Ihr Mann keine zwanghafte Störung. Sie sind normal.
Ja, aber ich habe das Gefühl, das ist normal. Ich bin eben hin und wieder depressiv.
Ja, das ist normal. Das ist menschlich.
Ich benutze das Wort depressiv.
Das ist das Problem.
Warum ist das ein Problem?
Wir sollten nicht die Fachsprache benutzen, die Menschen beschreibt, die wirklich Hilfe brauchen, um damit die zu beschreiben, die hypochondrisch sind. Da werden Menschen, die nicht wirklich bipolar gestört sind im klinischen Sinn, irgendwann so behandelt, als wären sie es.
Ja, natürlich, aber …
Und es trivialisiert die Bedürfnisse der Menschen, die wirklich eine bipolare Störung haben. Dabei geht es auch um die Verteilung der Ressourcen in der Gesellschaft. Wenn Sie jetzt eine Behandlung für eine bipolare Störung bekommen, klauen Sie sie damit einem Menschen, der sie wirklich braucht.
STÖRUNGEN
Zahlen und Fakten zu Diagnosen und Medikamenten
Hm.
Eine schwere Depression ist eines der schlimmsten Dinge, die einem passieren kann. Nur ein Drittel dieser Menschen wird behandelt. Aber eine milde Depression ist fast unmöglich von der normalen Traurigkeit des Alltags zu unterscheiden. Trotzdem nehmen in den USA 11 Prozent Antidepressiva. Die Leute, die es nehmen, brauchen es normalerweise nicht, und die, die es brauchen, bekommen es nicht.
Warum ist das so?
Menschen, die schwere psychiatrische Störungen haben, wollen oft keine Hilfe oder haben nicht die Energie, zum Arzt zu gehen. In den USA ist es auch schwierig, einen Termin bei einem Psychiater zu bekommen. Kann gut sein, dass das erst in zwei Monaten klappt. Und das ist sinnlos für jemanden, der jetzt Hilfe braucht. Psychisch Kranke kriegen in den USA einfacher eine Waffe als einen Termin beim Psychiater.
Ich sollte keine Pillen nehmen, klar. Aber Hilfe könnten wir doch alle gebrauchen.
Sie meinen Psychotherapie?
Ja.
Nicht jeder sollte in eine Therapie gehen, das ist albern. Aber kurzzeitige Therapie ist sinnvoll, und ich glaube, das ist eine gute Investition für die Gesellschaft. Jeder Vergleich zwischen Psychotherapie und Medikamenten – für schwache Probleme – zeigt, dass Psychotherapie genauso gut oder besser ist. Sie wirkt länger und Nebenwirkungen sind unwahrscheinlicher. Langfristig wäre das auch weit billiger.
Das neue Psychiatrie-Handbuch könnte eine andere Entwicklung fördern: Mehr Menschen bekämen dann eine Diagnose und Pillen.
Das neue Handbuch ist ziemlich abenteuerlich. Menschen werden noch leichter mit einer psychiatrischen Störung diagnostiziert. Meine Angst ist, dass es eine wilde Hyperinflation an Störungen gibt, und zwar weltweit.
Dieses Buch beeinflusst auch den internationalen Diagnoseschlüssel, der in Deutschland gilt. Wie konnte es so mächtig werden?
Vor 1980 waren psychiatrische Diagnosen komplett unzuverlässig. Zwei Psychiater konnten sich nicht auf eine Diagnose einigen. Die Psychiatrie lief Gefahr, bedeutungslos zu werden. Die dritte Variante des Handbuchs, das DSM-3, eroberte das Feld, indem es Definitionen gab, auf die sich Leute einigen konnten. Die Menschen suchten einen Weg, Normalität zu definieren, vor Gericht, im Schulsystem oder wenn jemand ein Kind adoptieren wollte. DSM-3 schien so eine Definition zu liefern. So bekam das Buch Einfluss in der Gesellschaft.
Die neue Version könnte nun wieder Fake-Epidemien auslösen. Bedeutet: Viele verkaufte Medikamente, viel Geld. Wie viel Einfluss hatten Pharmafirmen auf die Arbeit am Buch?
Keinen. Es gab eine Analyse, die zeigt, dass 50 oder 60 Prozent der Menschen, die daran arbeiteten, Verbindungen zu Pharmafirmen haben. Aber da geht es um weniger als 10.000 Dollar im Jahr.
Und das ist nichts, finden Sie?
Es gibt viele Psychiater, die zu sehr mit Pharmafirmen verbandelt sind, die sich wie Verkäufer für Medikamente verhalten. Die Leute, die an dem Buch gearbeitet haben, sind nicht so. Die Entscheidungen darin sind dumm, aber nicht korrupt.
Was macht Sie da so sicher? Als Sie die Arbeit an dem Buch leiteten, das bis jetzt galt, hat man Ihnen dasselbe vorgeworfen. Und Sie haben selbst Vorträge gehalten, um pharmazeutische Produkte zu bewerben.
Na ja, so würde ich das nicht sagen. Es war nicht, um die Produkte zu bewerben. Aber ja, ich habe alles mögliche mit Pharmafirmen gemacht. Ich habe dennoch nie etwas gesagt oder gemacht, von dem ich das Gefühl hatte, dass es falsch war.
■ DSM: Das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders ist das wichtigste psychiatrische Handbuch für die USA. Es erscheint seit 1952, jetzt in der fünften Version.
■ Depression: Die harten Kriterien, die das DSM für eine Depression formuliert, erfüllen 8 Prozent der Deutschen. Es gibt also eine Grauzone von 18 Prozent, in der Überdiagnosen möglich sind (Grafik links).
■ ICD: Die International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems ist das maßgebliche Psychiatrie-Handbuch in Deutschland. Es wird von der US-Version DSM beeinflusst.
■ Spielen: „Zwanghaftes Glücksspiel“ heißt laut DSM, durch Spielen Schaden zu erleiden, ohne dem Drang widerstehen zu können. Der ICD spricht von „Störungen der Impulskontrolle“.
■ Definition: Die Häufigkeit einer Diagnose ist nicht nur von Klassifikationen abhängig, sondern auch davon, wie diese in welchem Gesundheitssystem von welchen Ärztinnen ausgelegt werden.
■ Aktivität: Bei leichten Depressionen hilft laut Fachliteratur schon in 33 Prozent der Fälle ein Placebo, ein Medikament ohne Wirkstoff. Auch Sport und Bewegung können gute Gegenmittel sein.
Trotzdem: Es gab eine starke Verbindung.
Ja, und das ist ein Problem. Pharmafirmen sollten ihre Produkte nicht bei Ärzten bewerben dürfen. Das etwa geschieht in Deutschland sehr stark. Und Forschung, die zu einer Zulassung führt, sollte nicht von Pharmafirmen betrieben werden.
Aber warum erschaffen Experten dann so viele neue Störungen, die Menschen schaden können, wenn nicht aus finanziellen Gründen?
Ich glaube, die Experten haben einen intellektuellen Interessenkonflikt, keinen finanziellen. Wenn Sie ein Experte sind, verbringen Sie ihr Leben damit, an einer Störung zu arbeiten. Experten auf ihrem Gebiet, egal welches das ist, bewerten das Gewicht ihres Gebietes über.
Ist das ein bisschen so wie bei Botanikern, die unbedingt neue Pflanzen finden wollen, um ihnen ihren Namen zu geben?
Einerseits will man seinem Gebiet den eigenen Stempel verpassen. Viele glauben auch, gerade ihr Bereich verdiene mehr Forschung. Und da gebe es Patienten, die übersehen wurden und auch diagnostiziert werden sollten. Wenn man die Experten also nicht kontrolliert, wird ziemlich bald jeder krank sein.
Was soll ich also in Zukunft machen, als Patientin?
Akzeptieren Sie nicht die erste Meinung. Besonders dann nicht, wenn Sie nach ein paar Minuten und nicht von einem Spezialisten kommt. Lesen Sie viel über die Diagnosen. Wir sehen uns vielleicht selbst nicht immer klar, aber wir sind eine wichtige Quelle für Informationen. Auch unsere Familien können das sein. Und wir sollten nicht annehmen, dass Pillen Dinge besser machen, ohne selbst Probleme zu verursachen.
Wir sollten der Psychiatrie-Bibel weniger glauben.
Das wäre das Beste für die Welt: Wenn Menschen sie einfach ignorieren würden. Aber wir sollten nicht alle psychiatrischen Diagnosen aus dem Fenster werfen. Psychiatrie ist wundervoll, wenn sie gut gemacht ist.
Denken Sie, dass das hilft, was Sie machen?
Ich weiß nicht. Meine klügsten Freunde sagen, es ist Zeitverschwendung.
■ Maria Rossbauer, 32, sonntaz-Autorin, ist Neurobiologin und Wissenschaftsjournalistin. Sie fühlt sich meist normal verrückt